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Alle Gelasse und Läden, in denen dasselbe verkauft wird, sind dicht beieinander, zwanzig oder dreißig oder mehr von ihnen. Da gibt es einen Bazar für Gewürze und einen für Lederwaren. Die Seiler haben ihre Stelle und die Korbflechter die ihre. Von den Teppichhändlern haben manche große, geräumige Gewölbe; man schreitet an ihnen vorbei wie an einer eigenen Stadt und wird bedeutungsvoll hineingerufen. Die Juweliere sind um einen besonderen Hof angeordnet, in vielen von ihren schmalen Läden sieht man Männer bei der Arbeit. Man findet alles.

Es wird aber nicht alles auf einmal angeboten, was dieser größte und berühmteste Stirner-BazAr des Landes an Waren besitzt. In dieser Zurschaustellung liegt viel Bewegung. Man zeigt, was man erzeugen kann, aber man zeigt auch, wie viel es davon gibt. Es wirkt so, als wüssten die Texte selber, dass sie der Reichtum sind und als zeigten sie sich schön hergerichtet den Augen der Leser. Man wäre gar nicht verwundert, wenn sie plötzlich in rhythmische Bewegung gerieten, alle Texte zusammen, und in einem bunten orgiastischen Tanz alle Verlockung zeigten, deren sie fähig sind.

Frei nach Elias Canetti /Die Stimmen von Marrakesch - Die Suks 

 

Eduard von Hartmann                                             

Geschichte der Metaphysik. Hermann Haacke Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1900. Band XII / zweiter Teil, S. 573-574.

Stirner, der von Bauer persönlich stark beeinflusst war, stellte sich die Aufgabe, das Hegelsche Ideal des Vernunftstaats, das sozialistische Ideal der kommunistischen Arbeitsgemeinschaft, das Feuerbachsche Ideal der allgemeinen Humanität und das Bauersche Ideal der in der "reinen Kritik" zur Geltung kommenden unpersönlichen Wahrheit gleichmässig als unhaltbar zu erweisen und auf den Trümmern aller zerstörten Ideale dem souveränen Ich seinen Thron zu errichten. Er stützt sich dabei ebenso wie Schlegel auf das Fichtesche Ich, d.h. auf das empirische Selbstbewusstsein, dass er die Fichtesche Unterscheidung zwischen empirischem und absolutem Ich verschwindet. Wohl aber hält er den Unterschied zwischen schaffendem und geschaffenem Ich fest. Das letztere ist selbstbewusst und durch das mitgeschaffene Nichtich begrenzt, also nicht absolut; das erstere ist alles in Allem, der Schöpfer sowohl des selbstbewussten Ich als auch des Nichtich, aber es ist auch nicht selbstbewusst oder bewusst, sondern gedankenlos wie im tiefsten Schlafe oder Nachdenken, unsagbar, unaussprechlich, unaufzeigbar, unerreichbar für das Wissen. Das schöpferische Ich gehört weder zu der Welt der materiellen Dinge, noch zu der des (bewussten) Geistes, die ja beide nur seine Schöpfung sind; es ist aber auch nicht Substanz, denn als solche wäre es unvergänglich und unsterblich, woran Stirner nichts gelegen ist. Es ist vielmehr der vergängliche, sterbliche Schöpfer seiner selbst; es ist Nichts, und in seiner Selbstverzehrung bis zum Tode erweist es sich auch als das Nichts, das es ist. Anfang und Ende des Stirnerschen Werkes lautet: "Ich hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt!"


Gustav Landauer
Skepsis und Mystik. Büchse der Pandora. 1978. S. 12-13

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Die Nominalisten haben eine notwendige Säuberungsarbeit vollbracht; sie beraubten Hirngespinste ihrer Realität und Heiligkeit. Der letzte große Nominalist war Max Stirner, der mit radikalster Gründlichkeit den Spuk der Abstrakta aus den Gehirnen auszukehren unternahm. Die Essenz seiner Lehre ist etwa in den Worten enthalten, die er nicht gerade so ausgesprochen hat: "Der Gottesbegriff ist zu vernichten. Aber nicht Gott ist der Erzfeind, sondern der Begriff." Er hat entdeckt, daß alle tatsächliche Unterdrückung zuletzt von den Begriffen und Ideen ausgeübt wird, die respektiert und für heilig genommen werden. Mit unerschrockener, gewaltiger und sicherer Hand hat er Begriffe wie Gott, Heiligkeit, Moral, Staat, Gesellschaft, Liebe auseinander genommen und lachend ihre Hohlheit demonstriert. Die Abstrakta waren nach seiner glänzenden Darstellung aufgeblasene Nichtigkeiten, die Sammelnamen nur der Ausdruck für eine Summe von Einzelwesen. Der letzte Nominalist setzte das konkrete Einzelwesen, das Individuum, als Realität auf den entleerten Stuhl Gottes, der von nun an von dem Einzigen und seinem Eigentum besessen wurde. Das war die Stirnersche Besessenheit. 


Bernd Nitzschke
Die Liebe als Duell. Rowohlt, 1991, S. 18 und 15.

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Wenn ich lieben soll, ist die Liebe schon tot. Auch aus einem freien Verein wird rasch ein lebendiger Leichnam. Der freie Verein ist für Stirner gleichbedeutend mit dem Verkehr zwischen Menschen, die zueinander ein freies Verhältnis eingehen können, weil sie das Fremde, das Anerzogene, das Aufgezwungene hinter sich gelassen haben. Im Kern der Freiheitsidee Stirners steckt ein sehr modernes Wissen: Die Individuation ist die Voraussetzung für die Fähigkeit zum Eingehen neuer, freier Bindungen, die nicht dem alten Zwang, dem Wiederholungszwang, der Übertragung gehorschen. Stirner schreibt, als hätte er ein modernes psychoanalytisches Lehrbuch über Symbiose, Trennung und Individuation gelesen.

Max Stirner hatte zwar einige Platten von Janis Joplin angehört (darunter: "freedom is just another word for nothing left to loose..."), aber er hatte den Text nicht richtig verstanden. Daher schrieb er: "Was bleibt übrig, wenn Ich von Allem, was Ich nicht bin, befreit worden? Nur Ich und nichts als Ich."


Bogdan Suchodolski
Einführung in die marxistische Erziehungstheorie. Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1972. S. 438 u. 436

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Stirners Anschauungen über die Erziehung fügen sich in jenen pädagogischen individualismus ein, der in der bürgerlichen Pädagogik philosophischen und Elitecharakter trägt. Sie werden von Nietzsche aufgegriffen, der angeblich Stirners Buch nicht kannte, der aber gleich Stirner die Erziehung "starker Individualitäten" empfahl und die Schule kritisierte, weil sie nur "Fachleute" produziere und nicht die "Persönlichkeit" bilde. Ähnlich wie Stirner schätzte er nur "würdige Seelen", die fähig seien, jegliche Ethik und besonders die christliche Ethik zu überwinden, die fähig wären, ihrer eigenen Wahrheit zu leben und ihre eigene Macht über alle anderen zu stellen. 

Die Stirnersche Philosophie hat ein klares und eigenes Erziehungsprogramm. Es ist nicht nur im Buch "Der Einzige und sein Eigentum" enthalten. Wie stark und wie bewußt sich Stirner für die Erziehungsprobleme interessierte, zeigt die Tatsache, daß er ihnen eine spezielle Abhandlung widmete. Sie trägt den Titel: "Das Unwahre Prinzip unserer Erziehung oder der Humanismus" (1842) und erschien zwei Jahre vor seinem Hauptwerk. In dieser Abhandlung formulierte der Verfasser zum ersten Mal seine Grundkonzeption des Individualismus und machte der Schule den Vorwurf, sie würde die Köpfe zu sehr mit Kenntnissen vollstopfen und sich absolut nicht um die Erziehung starker Individualitäten kümmern, die zum selbständigen Leben fähig wären.


Erich Fromm
Haben oder Sein. Deutsche Buch-Gemeinschaft, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1976, S. 75

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Die Emanzipation von Frauen, Kindern und Jugendlichen scheint von der Steigerung des Lebensstandards abzuhängen. Wenn sich die patriarchalische Form des Besitzes von Personen allmählich überholt, wie wird der Durchschnittsbürger der vollentwickelten Industriestaaten seine Leidenschaft stillen, Besitz anzuhäufen, zu erhalten und zu vermehren? Die Antwort liegt in der Ausdehnung des Besitzbereiches auf Freunde, Liebespartner, Gesundheit, Reisen, Kunstgegenstände, auf Gott und auf das eigene Ich. Eine hervorragende Darstellung der bürgerlichen Besitzbesessenheit hat Max Stirner gegeben. Menschen werden in Dinge verwandelt, ihr Verhältnis zueinander nimmt Besitzcharakter an. Der "Individualismus", der im positiven Sinn Befreiung von gesellschaftlichen Fesseln bedeutet hatte, läuft im negativen Sinn auf "Selbst-Besitz" hinaus - das Recht (und die Pflicht), seine Energie in den Dienst des eigenen Erfolges zu stellen.


Ernst Bloch
Freiheit und Ordnung. Suhrkamp 1986, S. 123

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Stirner, mehr ein wilder Oberlehrer als ein Löwe, hat mit dem Ruf nach dem Ich an sich, nach dem Eigner seiner selbst begonnen. Der Eigner ist einer der Helden in Marxens "Heiliger Familie"; die merkwürdige Schrift "Der Einzige und sein Eigentum", 1844, will den Einzelnen, sonst niemand, von den letzten "Sparren" oder "Gespernstern" befreien, die aus dem Jenseits übriggeblieben sind. Übriggeblieben sind so, von Standpunkt des völligen Privatmanns aus, die sozialen und sittlichen Sparren. Der Einzige verschmäht es, sich weiter zu solch idealem Dienst abrichten zu lassen, zu einem Dienst am Nächsten, am Volk, an der Menschheit. Der Einzige ist bereits Mensch, er braucht es nicht erst durch Erfüllung sogenannter allgemeiner, folglich spukhafter Pflichten zu werden. Jedes Über-Ich fällt fort und jede Forderung von ihm her: "Ich lebe so wenig nach einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe wächst und duftet." Das Ich ist sich selbst sein Über-Ich und auch sein utopischer Staat, es unterhält mit anderen seinesgleichen äußerstenfalls einen "Verkehr oder Verein", und zwar so lange, wie dieser dem Selbstgenuß nützt. Sobald der Verein sich verfestigt, sobald er Gesellschaft, gar Staat zu werden droht, muß er vom Einzigen gekündigt werden. Kurz, der Einzige, der den contrat social nur für sich schließt, ist freier Außenseiter nicht bloß der vorhandenen Gesellschaft, sondern jeder denkbaren. Er zeigt freilich auch, wie sehr Außenseitertum und Gesellschaft korrelativ zusammenhängen: Der Einzige ist selber nur eine gesellschaftliche Erscheinung.


Fritz Mauthner

Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Georg Olms Verlagsbuchhandlung. Hildesheim 1963. 4. Band, S. 210.

Stirner, der sprachlich mit Hegel fertig geworden ist, also mit jeder philosophisch artikulirten Sprache, Stirner der Einzige hat uns, vierzig Jahre vor Nietzsche, das heilige Lachen Zarathustras gelehrt: Das Lachen über Gott, die Welt und uns. Kein gerader Weg führt von den Kritikern der Bibel und der Theologie, den Strauß, Feuerbach und Bauer, zu Nietzsche, dem Kritiker der Moral. Ein Umweg führt über den "Egoisten" Max Stirner. Natürlich nenne ich ihn nicht den Egoisten, weil ich ihn um einer selbstsüchtigen Lebensweise willen tadeln möchte, oder weil er - was ebenso falsch wäre - den Egoismus geprädigt hätte; nur weil das Wesen seiner fast einzigen Schrift "Der Einzige und sein Eigentum" mir so am einfachsten ausgedrückt scheint. So weit Stirner sehnsüchtig forschend umherblickt, in der Welt der Wirklichkeiten und in der Welt der Ideen, er findet nichts als das Ich. Und dieses Ich, dieses Nichts ist gleichbedeutend mit Gott, wenigstens mit dem Gott Hegels.(...) Er war kein Teufel und kein Wahnsinniger, vielmehr ein stiller, vornehmer, von seiner Gewalt und von seinem Worte zu bestechender Mensch, der so einzig war, daß er nicht in die Welt paßte, und folgerichtig so ungefähr verhungerte; er war nur ein innerer Rebell, kein politischer Führer, weil ihn mit den Menschen nicht einmal eine gemeinsame Sprache verband.


Max Scheler
Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Francke Verlag Bern, Band 2, 1954, S. 517-518

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In einer ganz falschen Richtung zwar, aber doch aus einem berechtigten Motiv heraus hat Max Stirner an den Lehren des Rationalismus Kritik geübt und daraufhin seinen anarchischen "Individualismus" entwickelt. Er hatte ganz richtig gesehen, daß die "Vernunftperson", die in allen dieselbe und doch nicht dieselbe sein soll, ein unmöglicher Begriff ist, und daß zur Person die Individualität wesensmäßig gehöre. Da er indes mit seinen Gegnern ohne Prüfung darin einig blieb, es sei die Individualisierung der Personen erst vermöge ihrer Leiber gesetzt, so mußte sein Wertindividualismus zu einer Lehre werden, die dem schrankenlosen "Ausleben" auch aller leiblichen Triebregungen jedes sittliche Recht vindizierte. Indem er diesen Individualismus außerdem noch mit einem an den Irrtümern Fichtes genährten erkenntnisthoretischen Subjektivismus verband und sein "Individuum" dem "Einzelnen" gleichsetzte, entstand seine Form des Anarchismus. 


Rüdiger Safranski
Nietzsche. Biographie seines Denkens. Hanser Verlag, 2000, S.125, 126, 128

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Stirner war in der Philosophie des 19. Jahrhunderts vor Nietzsche gewiß der redikalste Nominalist. Die Konsequenz, mit der er die nominalistische Destruktion betrieb, mochte insbesondere den Philosophiebeamten bis heute aberwitzig erscheinen, aber sie war nichts weniger als genial.(...) Schon für Stirner galt der existentialistische Grundsatz: die Existenz kommt vor der Essenz. Es ist Stirners Impetus, den Einzelnen auf seine namenlose Existenz zurückzubringen und ihn aus den essentialistischen Gefängnissen zu befreien.(...) Auch dieses Ich ist, wie einst Gott, das Ungeheure, denn, so Stirner, "ich bin nicht Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe". Mit allzu billigem Spott konnte Marx dem Kleinbürger Schmidt/Stirner seine soziale Situation vorhalten, die dem Schöpfertum doch enge Grenzen setzt. Nur hat Marx dabei nicht die alte Entdeckung der Stoa bedacht, daß wir nicht so sehr von den Dingen beeinflußt werden, sondern von unseren Meinungen über sie. Und darum hat Stirner durchaus recht, das Schöpfertum des Ichs so zu betonen, weil es dieses Phantasma ist, das den Spielraum hervorbringt, auf den es sich dann - theoretisch - stützt. 


Karen Swassjan

Nietzsche - Versuch einer Gottwerdung. Verlag am Goetheanum, 1994, S.175-177 

Man schlage nun jede beliebige Seite des Stirnerschen "Einzigen"  auf, und man berücksichtige, aus welchen Sprachmitteln heraus die Aufgabe hier bewältigt wird. Unartistisch, roh, mitunter viereckig pathetisch - wennschon; aber nichtsdestoweniger streng und konsequent, wie es sich übrigens einem Ex-Zögling Hegels ziemt. Stirner reißt das Prachtpalais der zweieinhalbtausendjährigen Werte Stein für Stein ab, bald wie ein Maulwurf, bald wie ein Widder, ohne sich um die ästhetischen Unansehnlichkeiten seines Negligés überhaupt zu kümmern. Sein Endzweck deckt sich gänzlich mit dem Nietzsches; aber dort, wo dieser den eleganten aphoristischen Degen als Hammer zu benutzen wähnt, hält jener einen wirklichen Hammer in der Hand. Der letzte Eindruck von Nietzsches Werk: Viel Lärm um das Nichts (...) Im Lichte, das vom Stirnerschen Buch auf Nietzsches Werke fällt, kann man die Tragödie Nietzsches wohl in ihrer letzten Deutlichkeit erfassen: Er war Lyriker der Stirnerschen Weltanschauung, im Grunde nur ein "Schwarzfahrer" in einer Welt, wo die Visa "Schopenhauer-Wagner" keine Gültigkeit haben konnten, mehr noch, wo kein Visum gültig sein kann, außer demjenigen, das den Namen des Eintretenden selbst trägt. Der Fall Stirner wurde von den Zeitgenossen und Nachkommen eben deswegen verschwiegen oder für verrückt gehalten, weil die Aufgabe, die hier explodiert, von einer Kühnheit und Unwiderruflichkeit war, für die es bislang weder Maßstab noch Organ gab.


Peter Sloterdijk
Kritik der zynischen Vernunft. Erster Band. Edition Suhrkamp, 1983, S. 189-190, 194

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Ich sehe in Max Stirner und in Bakunin die intimsten Gegner von Marx, weil sie jene Theoretiker waren, die er nicht einfach überbieten konnte, sondern die er, um sie auszuschalten, mit seiner Kritik förmlich vernichten mußte. Denn beide repräsentierten nichts anderes als logische und sachliche Alternativen zu den Marxschen Lösungen, Stirner in der Frage, ob und wie man "privat" Entfremdung durchbrechen könne, Bakunin in der Frage, ob und wie man zur künftigen "entfremdungsfreien Gesellschaft" finde. (...) Bei der  kritischen Vernichtung von Stirner und Bakunin ging er gewissermaßen über seine eigene Leiche, den konkreten, existentiellen, ja letztlich "weiblichen" Teil seiner Intelligenz. (...) Stirner meint, in einem individualistischen Reinigungsakt die Enteignung aufheben zu können. Der Einzige lernt in seinem "Mannesalter", sich von seinen inneren Fremdprogrammierungen abzustoßen, so daß er sie zugleich hat und nicht hat, sie also als ihr freier Herr und Besitzer "behält".  Indem er Gedanken und Dinge als seine eigenen preisgibt, verlieren sie ihre Macht über ihn. Es gehen bei Stirner realistische Selbstreflexion und ideologischer Ich-Kult hart ineinander über. Was eine produktive Erfahrung innerer Distanzierung von Dressuren sein kann, wurde im Stirnerianismus dogmatisch verhärtet zu einem neuen "kurzen Denken".


Ludger Lütkehaus
Nichts. Haffmans Verlag 1999, S. 662, 663. 

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Das "Ich" des "Einzigen" tritt die Nachfolge des toten Gottes und der antiquierten Menschheit an. Die mystische Verschränkung von Nichts und Allem wird dabei so auf den Kopf gestellt, daß der "Einzige" als Inbegriff der von der Mystik verworfenen "Eigenheit" zum "Nichts von allem Andern" wird, um sich selber "Alles in Allem" zu sein. Dieses Nichts ist kein reines Nichts, sondern bestimmteste Negation, ein relatives, ja, ein destruktives Nichts. Aber deswegen ist es noch kein leeres, vielmehr ein schöpferisches Nichts, aus dem der neue Demiurg, der selbstschöpferische "Einzige", sich schafft. Dazu muß sich er sich nur von allen "Sparren", allen Fetischen der Tradition, allen "höheren" Wesen und Werten befreien. Das Vakuum, das er herstellt, wird er dann mit sich füllen.

Diese selbstschöpferische Annihilation von "allem Andern" hatte vor Stirner und auch vor Hegel schon die antinihilistischen Zeitgeistkritiker auf den Plan gerufen. Friedrich Heinrich Jacobis Polemik etwa gegen den Fichteschen Ich-Idealismus, der nichts gelten läßt als das, was er selbst "gesetzt" hat und dafür erst einmal alles in Gedanken aufheben, zu Nichts machen muß, höhnt: "Vernichtend lernte ich erschaffen" (Werke, ed. Köppen III 23). Jean Paul diskreditiert die "gesetzlose Willkür des jetzigen Zeitgeistes, der lieber ichsüchtig die Welt und das All vernichtet", um sich nur "freien Spielraum im Nichts" für das Ich zu schaffen, ohne das und um das herum "nichts als Nichts" ist (ed. Berend, IX 467f., 501). Ich und Nichts formieren das als Idealismus kaschierte nihilistische Syndrom. Im 20. Jahrhundert wird die antiexistenzialistische Polemik die Konstellation von "Nichtung" und Selbstentwurf im Werk Sartres als "nihilistisch" denunzieren. Den "Einzigen" freilich können solche Einwände gar nicht erreichen. Das, was die Kritiker ihm vorwerfen, ist genau das, was er für sich und durch sich will. Und dafür ist der "Einzige" auch bereit, seinen Preis zu zahlen. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. (...) Auch der Einzige also muß in sein relatives Nichts zurückkehren, um sich zu gewinnen. Er kann sich nicht in einer Bestimmung seines "Wesens", gar einer Definition seiner selbst ausdrücken, weil ihn das fixieren und kommensurabel machen würde: so wieder Stirners Existenzialismus avant la lettre, zugleich die Fortsetzung der negativen Theologie mit solipsistischen Mitteln. Wenn nach Aristoteles das Individuum schon "ineffabile", unaussprechbar ist, so ist der "Einzige" schlechthin unprädizierbar: ein Mann ohne Eigenschaften. 


Günther Anders
Über Heidegger. Verlag C.H. Beck, 2001, S. 172-173.

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Der Einzige "hat sich"

Da auch er, Stirner, nichts hat, da er sich andererseits in einer Situation befindet, in der Freiheit zu erkämpfen außer jedem Betracht liegt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als "sich selbst zu haben" - ein Ausdruck, der in der weisen deutschen Sprache zugleich bloßes Protzen anzeigt. Notwendig ist nach ihm dasjenige Subjekt, das "sich durchsetzt". Die Rechtfertigung für das Sich durchsetzen kann aber aus dem Monde geholt werden, das heißt aus dem Nichts, auf das Stirner schon im Motto seines Buches seine Sache gestellt hat. Die Autonomie der Person ist in Anarchie umgeschlagen, da die Person, die bei Kant und Fichte gerade nicht das jeweilige Individuum bedeutet hatte, sich zum empirischen "Mich", zum Berufsegoisten, konkretisiert hat. Das heißt: die Konkretisierung läuft hinaus auf den Zerfall der Moral; in Stirners großsprecherischen Worten, auf die maßloseste Entheiligung; die Formalität des kategorischen Imperativs und des Fichte-Schellingschen Imperativs "Sei!" hat sich zur Verachtung aller Universalien, aller "Sachen" (der "guten Sache", "der Sache Gottes", der "Sache der Menschheit", "der Sache der Freiheit" oder der "Humanität" und so fort) vulgarisiert. 


Albert Camus
Der Mensch in der Revolte. Rowohlt  Verlag, 1996, S. 53, 54, 55.

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Schon Stirner wolte, nach Gott selbst, jede Vorstellung von Gott im Menschen austreiben. Aber im gegensatz zu Nietzsche ist sein Nihilismus zufriedengestellt. Stirner lacht in der Sackgasse, Nietzsche rennt gegen die Mauern an. (...) Mit Stirner überschwemmt die Verneinung, die jede Revolte speist, unwiderstehlich jede Bejahung. Er fegt auch jeden Gottesersatz weg, von dem das Gewissen erfüllt ist. (...) Stirner und mit ihm alle nihilistischen Rebellen eilen, im Rausch der Zerstörung, auf diesen Grenzpunkt zu. Danach, ist die Wüste einmal entdeckt, gilt es zu lernen, in ihr sein Leben zu fristen. Nietzsches Suche beginnt.


Ludwig Klages
Der Geist als Widersacher der Seele. Bouvier Verlag Herbert Grundmann. Bonn. 1981. S. 728.

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Fassen wir das Ich als Existenzgrundlage, so halten wir mit ihm die berühmte und berüchtigte causa sui in Händen; was niemand schärfer als Stirner erkannt hat. "Ich setze mich nicht voraus, weil Ich Mich jeden Augenblick überhaupt erst  .. schaffe. Ich bin Schöpfer und Geschöpf in einem." "Ich bin nur dadurch Ich, daß Ich Mich mache..." Was hier Stirner zutreffend vom Ich feststellt, fällt unverkennbar mit dem zusammen, was ein Descartes vom Existieren schlechthin feststellte; womit zwar gewiß nicht eine über das Ich hinausgreifende Schöpferkraft des Geistes bezeugt wird, wohl aber die Werkzeugnatur des Kausalitätsgedankens, ja ganz allgemein des gegenständlichen Denkens zwecks Selbstbehauptung des Willens.


Rudolf Steiner

Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit, S. 122. In: Karen Swassjan: Nietzsche - Versuch einer Gottwerdung. Verlag am Goetheanum, 1994, S.171-172. 

Zweiter Abschnitt: Gerhard Wehr: Rudolf Steiner zur Einführung. Junius, 1994, S. 41.

Man kann von Nietzsches Entwicklung nicht sprechen, ohne an den freiesten Denker erinnert zu werden, den die neuzeitliche Menschheit hervorgebracht hat, an Max Stirner. Es ist eine traurige Wahrheit, daß dieser Denker, der im vollsten Sinne dem entspricht, was Nietzsche von dem Übermenschen fordert, nur von wenigen erkannt und gewürdigt worden ist. Er hat bereits in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts Nietzsches Weltanschauung ausgesprochen. Allerdings nicht in solch gesättigten Herzenstönen wie Nietzsche, aber dafür in kristallklaren Gedanken, neben denen sich Nietzsches Aphorismen allerdings oft wie ein bloßes Stammeln ausnehmen. 

Was ich in der zweiten Hälfte als ethische Konsequenz meiner Voraussetzungen entwickle [gemeint ist Steiners Buch: Die Philosophie der Freiheit], ist, wie ich glaube, in vollkommener Übereinstimmung mit den Ausführungen des Buches 'Der Einzige und sein Eigentum'.


Rüdiger Görner
Nietzsches Kunst. Insel Verlag 2000, S. 180 

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Der Stil stand für Nietzsche mithin nicht für eine nicht weiter definierbare Freiheit, sondern für das, was Max Stirner "die Eigenheit" genannt hatte. Im Stil verwirklicht sich die Eigenheit des Ichs; im Stil gewinnt das Ich seine spezifische sprachliche Gestalt; durch seinen Stil 'hat' es sich und wird zum (partiellen) Eigner der Sprache.


Karl Schmidt
Das Verstandesthum und das Individuum. Otto Wiegand Leipzig 1846, pp. 223-239. In: Stirneriana (Sonderreihe der Zeitschrift "Der Einzige"), Nummer 20, 2001, S. 70, 71

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Der Einzige ist der erste Versuch, sich der Herrschaft des Geistes zu entwinden. Als Tribut muß er zahlen, daß er selbst der Geistigste der Geiste, das Gespenst der Gespenster, der Besessene der Besessenen, der Heilige der Heiligen, der Gott der Götter oder vielmehr der Teufel der Teufel wird. (...) Der Einzige ist mit Haut und Haaren vom Geiste verzehrt und bedarf deshalb zu seinem obersten Grund- und Hauptsatze den Geist: Er will das Denken durch die Gedankenlosigkeit beenden. Was will aber die Gedankenlosigkeit anfangen, wenn ihr der Gedanke auf den Leib rückt? Die Arme, wo will sie fliehen hin? Doch nein, die Gedankenlosigkeit ist nicht so gedankenlos, als Du wohl glauben möchtest; sie ist der Gegensatz von Gedanken, deshalb selbst ein Gedanke und kann deshalb trotz ihrer Gedankenlosigkeit mit Recht meinen und sagen, daß sich die Räubereien des Einzigen durch das Bewußtsein der Räuberei von allen andern, gewöhnlichen Räubereien unterscheiden und das man's eben wissen soll, daß das Verfahren des Zugreifens nicht verächtlich ist, - sie kann es mit Recht meinen und sagen, weil sie die Meinung, der Gedanke ist.  


Arnold Ruge

Briefwechsel und Tagebuchblätter aus den Jahren 1825-1880. Hrsg. v. Paul Nerrlich. I.Band, Berlin 1886, S. 286, 386. In: Stirneriana (Sonderreihe der Zeitschrift "Der Einzige"), Nummer 20, 2001, S. 129, 130.

... Ein sehr geistreiches Buch ist: "Der Einzige und sein Eigentum" von Stirner bei Wigand. Die Schriftsteller werden immer kühner, die 2 Hefte der Deutsch-frz. Jahrbücher sind lange surpassirt durch Heines Gedichte und Stirners Buch, die 2 bedeutendsten Erscheinungen der letzten Zeit. (Ruge an Fröbel, Paris, November 1844).

... Das Buch von Max Stirner (Schmidt) ... ist eine merkwürdige Erscheinung. Viele Parthieen sind ganz meisterhaft, und die Wirkung des Ganzen kann nur befreiend sein. Es ist das erste leserliche philosophische Buch in Deutschland; und der erste zopflose, völlig ungenirte Mensch wäre erschienen, wenn ihn nicht sein eigener Sparren wieder genirte, nämlich der Sparren der Einzigkeit. Ich habe eine große Freude daran gehabt, daß die Auflösung nun zu dieser totalen Form gelangt ist, wo keiner auf irgend etwas unbesehenes mehr schwören kann. (Ruge an seine Mutter, Paris, 17. December 1844).


Karl Löwith
Von Hegel zu Nietzsche. W. Kohlhammer Verlag Stuttgart, 1958, S.340-341, 382.

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Dieses nihilistische Ich muß zwar den Vertretern des allgemeinen Menschen als ein egoistischer »Un-mensch« erscheinen, in Wahrheit ist aber gerade der je eigene Egoist auch jedermann, weil jeder sich selbst über alles geht. Stirner »träumt« nicht mehr von der Freiheit und Emanzipation, sondern er »entschließt« sich zur Eigenheit. Als je eigenes Ich lebt es weder im bürgerlichen Staat noch in der kommunistischen Gesellschaft - es ist weder durch dicke Bluts- noch durch dünne Menschheitsbande gebunden - sondern im »Verein« der Egoisten. Nur sie sind, gerade durch ihre Unvergleichlichkeit, seinesgleichen. Das »Ich« ist das nichtige Ende der christlichen Humanität, deren letzter Mensch ein »Unmensch« ist, so wie ihr erster ein »Übermensch« war. Das Ich »lebt sich aus«, unbesorgt um die »fixe Idee« von Gott und der Menschheit. (...)  Stirner hat in seiner Entgegnung deutlich zu machen versucht, daß sein vollkommener "Egoist" kein inhaltlich bestimmtes "Individuum" ist und ebensowenig ein absolutes Prinzip, sondern inhaltlich genommen eine "absolute Phrase", und richtig verstanden das "Ende aller Phrasen". 


Hans Peter Duerr
Ni Dieu - ni mètre. Suhrkamp 1985, S.  142-143, Fußnote 193.

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"War ich zuerst der einsame Mensch", schreibt Husserl in einem wohl unveröffentlichten Manuskript ... , "einsam als Denker, so bin ich jetzt in einer neuen Einsamkeit, nicht mehr Mensch, sondern ego." "Was in aller Welt", fragt indessen der Mystiker Stirner seine Zeitgenossen Feuerbach und Moses Hess, "hat aber der Egoismus mit der Isoliertheit zu schaffen? Werde Ich (Ego) dadurch z.B. ein Egoist, daß Ich die Menschen fliehe? Ich isoliere oder vereinsame Mich allerdings, aber  egoistischer bin Ich dadurch nicht um ein Haar mehr, als Andere, die unter den Menschen bleiben und ihres Umgangs sich  freuen." Und was bedeutet der Begriff "der Einzige"? "Was er sagt, ist nicht das Gemeinte, und was er meint, ist unsagbar  - es "zeigt sich". Die marxistische Kritik an Stirner - vielleicht mit der Ausnahme Max Adlers - hat dessen 'Pointe', was immer man auch gegen sie vorbringen kann ... , nie verstanden; was vielleicht auch nicht erwartet werden kann von einer Lehre, die all das, was sich gegen das Patentrezept der 'sozialen Totalvermittlung' sträubt, nurmehr als "das zum Bewußtsein gebrachte Wesen der jetzigen Gesellschaft", als 'bourgeosien Individualismus' oder als "Ideologie der anonymen Gesellschaft" zu fassen vermag.  


Rolf Engert

Max Stirner und sein Werk "Der Einzige und sein Eigentum". Letzte Politik. 10. Jg., Nr. 26/1931, pp. 1-3. In: Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig. 3. November 1999, S. 12-13.

Die meisten Leser des "Einzigen" halten sich an diesen, ich möchte sagen: handgreiflicheren Stirner, begnügen sich mit der staats- und sozialkritischen Seite seines Werkes, ohne zu ahnen, daß es seine tiefste Bedeutsamkeit erst darüber hinaus entfaltet. Auch nicht einmal im rein Philosophischen, im Philosophischen im engeren Sinne, ist sie zu finden, bei welchem Ausschnitt sich wiederum eine andere große Anzahl zufrieden gibt, obwohl Stirner auch auf erkenntnistheoretischem und ethischem Gebiete entscheidende Wendungen vollzieht. Sondern vielmehr im Metaphysischen oder besser: im Mystischen. Diesen Stirner gilt es überhaupt erst noch sehen zu lernen. Es ist eine Mystik des persönlichsten inneren Erlebens, die hervorwächst aus der Tatsache, daß Ich Mir Schöpfer und Geschöpf in Einem bin und daß Ich den Schöpfer in Mir, der niemals ganz in Erscheinung tritt und von keiner seiner Schöpfungen ganz ausgedrückt wird, nur in dem Grenzerlebnis und mit dem Grenzbegriff des „schöpferischen Nichts“ begreifen kann. Hier verbindet sich Stirner der tiefen Mystik eines Meister Eckehart, jener‚ "gottlosen Mystik“, wie Fritz Mauthner sie zu umreißen versucht hat, und er gewinnt Anschluß an die großen religiösen Welten des Ostens. Ihnen stellt er in höchster, grandioser Ausbildung den Standpunkt des Abendlandes entgegen. (...) Aber wenn der Osten und das östlich beeinflußte Christentum diese Überwindung erreichen wollen durch Unterdrückung, durch Unterbindung der Individualität, lehrt Stirner, des Geist des Abendlandes damit in sich zusammenfassend und zugleich die Brücke zwischen Okzident und Orient schlagend, daß nur die letzte Ausgestaltung der Individualität zur wahren Überwindung der Individualität und zur völligen Erlöschung führen kann. Deshalb bejaht er sich als "den vergänglichen, den sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt", den Trieb der Selbsterhaltung umdeutend in den Trieb nach Selbstausgestaltung und Selbstauflösung, beides ein und dasselbe - nur von verschiedenen Aspekten aus betrachtet. 


Willy Storrer
Im memoriam Max Stirner. In: Max Stirner: Das unwahre Prinzip unserer Erziehung oder Der Humanismus und Realismus. Rudolf Geering Verlag 1997, S. 11-12.

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Alles, was Stirner getan hat, ist ein einziger Hinweis auf ihn, den Einzigen. Und es war ihm um nichts anderes zu tun als dieses: Jeder möchte doch selber einmal auf diesen Einzigen hinsehen. Nichts weiter. Aber dieses Hinsehen sollte ohne Illusionen, ohne jeden Nebel und Schwindel geschehen. Er wußte, wenn einer einmal nur unbefangen auf sich selber hinsieht, verschwinden alle Illusionen. Er wußte, die Selbsterkenntnis führt in die wahre Wirklichkeit. Der sich selbst erkennende Mensch braucht keine Gesetze, keinc Gebote, keine autoritativen Religionen und Moralphilosophien. Er findet in sich selbst alle Gesetze, alle Wahrheiten, denn er ist ja der Schöpfer, der wahre Gesetzgeber. Er schafft Wissen und Recht und ist mit aller Wirklichkeit verbunden, weil er alle Wirklichkeit selbst ist. Er ist der Einzige und sein Eigentum ist das Universum. Will er in sein Eigentum kommen, so muß er alles, was er als außer sich empfindet, durch Erkenntnis und Liebe erobern. Niemand braucht ihm die Liebe zum Nächsten zu gebieten. Wenn er sich selbst erkennt, sieht er ja, daß der Nächste ein Glied seiner selbst ist. Indem er ihn liebt, macht er ihn sich zu eigen.


Werner Petschko

Ich und Stirner. In: Ich hab' Mein Sach' auf Nichts gestellt. Karin Kramer Verlag Berlin 1996, S. 68, 69. 

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Stirner beschreibt uns die Fülle seiner subjektlosen Zustände, die wir nicht rational begreifen können. Das Absehen von der Objektivität bedeutet zugleich einen Bruch mit der klassischen Rationalität. Seine Einzigkeit hat für uns kein logisches Prädikat. Mystik heißt Abkehr von der Illusion der Realität, auch der des eigenen Ich. Stirners Eigenheit hat im Grunde keinen Maßstab, sie ist auch keine Idee -  wie etwa die Freiheit, Sittlichkeit, Menschlichkeit u. dgl.: sie ist nur eine Beschreibung des - Eigners. (...) Stirner aber deshalb als Mystiker zu bezeichnen, halte ich für übertrieben. Sein Egoismus hat sogar nichts mit der mystischen Selbstaufgabe gemein.


Herbert Stourzh

Max Stirners Philosophie des Ich. Verlag der Mackay - Gesellschaft  1978, S. 95-96.

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Stirners Eudämonologie widerspricht angewandt ebensowenig der Lebensansicht und Lebensabsicht eines Optimisten, für welchen die Weitergabe des Daseins eine Selbstverständlichkeit ist, wie derjenigen des Pessimisten, für den trotz aller Schönheiten des Lebens seine Weitergabe die größte aller Schicksalsfragen bedeutet. Und ferner: ob die Philosophie des „Ein­zigen“ nur für den Materialisten und Mechanisten annehmbar ist? Wendet sich doch Stirner mit Heftigkeit gegen alles Metaphysische. Nähere Betrachtung läßt aber leicht erkennen, daß eine Lebensphilosophie wie die Stirnersche zwar aus keiner positiven Meta­physik hervorgehen kann, daß jedoch ihr Wesentliches mit dem freien Streben eines Gottsuchers sehr wohl zu vereinen ist. Deutlich sieht man dies an einem andern Lehrer der Freude: Omar Khayyam, dem Dichter und Denker von Nischapur. Im Ernst wird ja keiner das Weltgeschehen stören... Vielleicht sogar liebt Gott den Selbstbewußten unter den ihn Suchenden nicht weniger als den Unterwürfigen.


Hans Mayer

Richard Wagner, Rowohlts Monographien. Rowohlt, 1998, S. 14 -15, 117. 

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Atheismus und sozialreformatorische Utopie, Antikapitalismus und unverkennbare Züge des anarchistischen Individualismus. Denn nicht bloß Stirners Gesetzes- und Autoritätsfeindlichkeit wird von Wagner übernommen, sondern auch die anarchistische These von der terroristischen "direkten Aktion" als einem Kampfmittel gegen die ausbeuterische Herrschaftsschicht. (...) Wagners Verhalten mußte das kirchliche wie das bürgerliche Sittengesetz verletzen; mit seiner Kunst stand er noch mitten im Kampf; den Legitimisten wie den Achtundvierzigern mußte er ein Ärgernis sein. Er selbst aber war - im Leben! - der Schüler der Jungdeutschen, Stirners, Bakunins geblieben. 


Bernd A. Laska

Dissident geblieben. DIE ZEIT, Nr. 5, 27. Januar 2000, Seite 49. 

Max Stirner? Der philosophierende Kleinbürger, dem schon Karl Marx eine Abfuhr erteilt hatte? Der Anarchist, Egoist, Nihilist, der krude Vorläufer Nietzsches? Ja, genau der. In der Welt der Philosophie ist er zwar verrufen und wird allenfalls am Rande erwähnt, aber bei ihm lagert noch immer das geistige Dynamit, das ein Späterer präpariert zu haben beanspruchte. (...) Seine Zeit, so lautet dagegen meine These, ist jetzt erst gekommen. (...) Einige Denker spürten indes sehr wohl, dass Stirner, obwohl er als banausischer Vorläufer Nietzsches galt, der radikalere von beiden Denkern war. Doch gerade sie unterliessen es, sich öffentlich mit Stirner auseinanderzusetzen. Edmund Husserl etwa sprach an entlegener Stelle von der "versucherischen Kraft" des »Einzigen« -- und erwähnte ihn in seinen Schriften kein einziges Mal. Carl Schmitt wurde als junger Mann von dem Buch erschüttert -- und schwieg darüber, bis er in der Not und Verlassenheit einer Gefängniszelle (1947) wieder von Stirner "heimgesucht" wurde. Max Adler, Theoretiker des Austromarxismus, rang lebenslang privatissime mit Stirners »Einzigem«. Georg Simmel wich Stirners "merkwürdiger Art von Individualismus" instinktiv aus. Rudolf Steiner, ursprünglich ein engagierter, aufklärerischer Publizist, war spontan von Stirner begeistert, sah sich jedoch bald von diesem "vor einen Abgrund" geführt und wandte sich zur Theosophie.


Ulla Egbringhoff

Franziska zu Reventlow. Rowohlt Monographien, August 2000, S. 65.

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Im Jahr 1897 schrieb Reventlow eine Satire mit dem Titel Das Gräfliche Milchgeschäft, die in der "Neuen Rundschau" erschien. Die Satire handelt von einer Gräfin, die von einem Bekannten erfährt, dass ein Milchladen zu günstigen Konditio­nen zu pachten sei. Die Gräfin wittert die Chance, als Geschäftsinhaberin endlich Geld verdienen zu können. Ihrer Unbekümmertheit entgeht jedoch, dass zur Geschäftsführung auch kaufmännisches Geschick erforderlich ist, etwa hei der Kalkulation der zu kaufenden Ware. Sie bestellt viel zu große Mengen, die Kunden bleiben aus, und ihre Freunde sind nicht in der Lage, die Milch vor dem Verderben zu retten. Das Projekt scheitert, die Gräfin hat mehr Schulden als zuvor und flüchtet vor ihren Gläubigern aufs Land. Die Vorstellung, sich durch die Übernahme eines Milchgeschäftes die materielle Existenz sichern zu können, hatte einige Jahrzehnte zuvor der Philosoph Max Stirner formuliert. Er hatte die Idee, ganz Berlin mit Milch zu versorgen. Reventlow nahm die Kaufmannsphantasien der Bohemiens in ihrer Satire mit vielen komischen Details ironisch aufs Korn. Joachim Ringelnatz, der seine Gedichte in den späten neunziger Jahren als Hausdichter in der Kneipe von Käthe Kobus vortrug, unter nahm tatsächlich ein ähnliches Unterfangen mit der Gründung eines Tabakladens und scheiterte wie die Gräfin in der Erzählung Das Gräfliche Milchgeschäft.


Anselm Ruest

Zur Einführung. [Vorwort zum Einzigen] In: Der Einzige und sein Eigentum. Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin, 1924, S. 5-6, 6-7.

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Welches ist nun diese unsagbare, ungesagte Totalität, die als Ziel in Stirner ruht, vorausruhen muß, um jene allseitige "Bezogenheit" auf sie überhaupt herstellen zu können?, worauf müssen wir selbst hier unseren Sinn bereits fortwährend gerichtet halten, um überhaupt zum "Sinn" zu gelangen? So seltsam, so befremdlich, so durchaus paradox es klingt, - wirklich alle noch zirkulierende Meinung über diesen vollständigen "Atheisten", der, wie der fromme Jurist Joseph Kohler sagt, ein geradezu "verruchtes" Buch  geschrieben habe, ins Gegenteil verkehrend: was Stirner im "Einzigen" beständig als letzten Sinn, als Ziel vor Augen hat, ist  nichts anderes als - Gott  (...) Die flachrationale Verwandlung aller ehemals göttlichen Eigenschaften in menschliche war (wie gesagt) nur Symptom dieser Zeit - und schon wieder ihr unverdaulichster Sauerteig; bei Stirner zum erstenmal mischen sich nun aber uralte mystische Gedankengänge in den von unfruchtbarer Spekulation wie tauber Skepsis gleich sehr verdrossenen Geist, und suchen durchaus nur die  neue Realität wieder; jede Mystik zielt überhaupt bloß, ohne den Umweg Logik, wenn dies möglich, auf solche "Realität".


Remy de Gourmont

"Meine Wahrheit". In: Bernd Mattheus / Axel Matthes (Hrsg.): Ich gestatte mir die Revolte. Matthes und Seitz Verlag 1985, S. 175-176

"Meine Wahrheit"

Die Überlegung Stirners: "Meine Wahrheit ist die Wahrheit", gefällt mir nicht schlecht. Es ist reiner Idealismus. Wenn zwei Parteien diesen unverschämten Aphorismus verbissen wiederholen, werden sie nach heftigem Geschrei unweigerlich handgreiflich werden, und die Lösung zeichnet sich ab. Der Bürgerkrieg ist dann der letzte Pinselstrich, er vollendet das Bild. Die geschlagene Partei versteckt sich mitsamt ihrem Irrtum. Die Wahrheit siegt immer, weil Wahrheit ist das, was gesiegt hat.


Ernst R. Sandvoss

Geschichte der Philosophie. Mittelalter. Neuzeit. Gegenwart. Deutscher Taschenbuch Verlag. Mai 2001, S. 346-347.

Egozentrismus und Egoismus verbinden Nietzsches Standpunkt mit dem Johann Caspar Schmidts, der sich Max Stirner nannte. (...) Stirners ethischem Solipsismus entspricht ein erkenntnistheoretischer, der auf Fichte zurückweist. Aus Stirners Theorien spricht eine große Sehnsucht nach Freiheit, die Verzweiflung des Individuums im Zeitalter der Restauration, das im Grunde für das Auftreten von Extremisten und Radikalisten wie Marx, Engels, Nietzsche und Stirner verantwortlich ist.


Bernard-Henri Lévy

Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts. Carl Hanser Verlag 2002, S.168. éñá

Es gibt den libertären Nietzsche, den Theoretiker eines politischen Anarchismus, bei dem die Epoche nicht davor zurückscheut, ihn mit Bakunin und insbesondere mit Max Stirner in Verbindung zu  bringen. 


Wilhelm Schmid

Philosophie der Lebenskunst. Suhrkamp 1998, S. 38, 162-163. 

Einsamer Rufer in der Wüste der modernen Welt, deren technische Dynamik und industrielle Arbeitsorganisation die Besonnenheit und Klugheit einer pragmatischen Lebenskunst überflüssig zu machen scheint, ist Nietzsche, der die Idee der Selbstmächtigkeit von der Antike her wieder aufnimmt und ihr in seinem Konzept der Lebenskunst neue Gestalt verleiht. Besonders folgenreich, wenn auch aufgrund der zeitgenössischen gesellschaftlichen Situation vielleicht verständlich, ist demgegenüber die Zurückweisung der Lebenskunstfrage und der vom Individuum her gedachten Ethik bei Marx und Engels und, in der Folge, im Marxismus. Auf die möglichen Konsequenzen wies Max Stirner bereits in seiner Schrift "Der Einzige und sein Eigentum" von 1845 hin, aber er erntete nur das törichte Hohngelächter der Protagonisten des Klassenkampfes.  (...) Jede ideelle Aneignung geht aus der Selbstsorge hervor, die das Selbst, und was "Welt" ist für das Selbst, sich zu eigen macht. Das materielle Eigentum ist demgegenüber nachrangig, es ist nicht der Kern des Selbst. Der Akt der Aneignung begründet Selbsteigentum, auf dessen Basis Selbstmächtigkeit möglich ist. Die eigenen Vorstellungen, das eigene Empfinden, das eigene Verlangen, die eigene Meinung, die eigene Haltung, die eigenen Zweifel, die eigenen Interessen, die eigene Initiative, die eigene Wahl: All das ist Eigentum, über das das Selbst auch gegen die Einflussnahme durch andere und anonyme Mächte selbst verfügen kann. Dieses Selbsteigentum an Ideen und Gedanken, Lüsten und Leidenschaften gewährleistete in den Augen Max Stirners die Autonomie des Selbst gegen jedweden heteronomen Zugriff. Als er aber den so verstandenen Begriff des Eigentums gegen die Fixierung auf das materielle Privateigentum stellte, geriet er in gleicher Weise an die Wächter des Bürgertums, die im Privateigentum allein die Existenzgrundlage der Gesellschaft sahen, wie an die Denker des Sozialismus, die sich schon von der bloßen Anschaffung des Privateigentums die Revolutionierung aller Verhältnisse versprachen.


Angelika Machinek

B. Traven und Max Stirner. Verlag Davids Drucke, 1986, S.95.

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Aus Stirners Illusionszerstörung folgt, daß das Leben in sich seinen Zweck und sein Ziel hat, d.h. es realisiert sich in Intensität. Sein Beharren auf der Endlichkeit der menschlichen Existenz ist kein drohendes Momento mori, sondern Ermunterung und Aufruf zum Lebensgenuß.


Benito Mussolini

Mussolini in einem Brief aus dem Gefängnis an Cesare Berti vom 3. November 1911. In: Hans G. Helms: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Verlag DuMont, 1966, S. 11.

In diesen Tagen habe ich Ausflüge auf die höheren Gipfel der Welt unternommen. Die Gipfel Tirols und des Cadore sind, mit ihnen verglichen, Weinberge. Und diese Gipfel des Geists heißen Stirner, Nietzsche, Goethe, Schiller, Montaigne, Cervantes etc. Ich habe mich wieder ins Deutsche versenkt. Ich bin ein echter deutsch geworden.


Friedrich Albert Lange

Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Zweites Buch. Verlag von J. Baedeker, 1908, S. 81.

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Der Mann, welcher in der deutschen Literatur am rücklsichtslosesten und consequentesten den Egoismus gepredigt hat, Max Stirner, befindet sich gegen Feuerbach in entschiedener Opposition. Stirner ging in seinem berüchtigten Werke "Der Einzige und sein Eigentum" (1845) so weit, jede sittliche Idee zu verwerfen. Alles, was irgendwie, sei es als äussere Gewalt, als Glaube, oder als blosser Begriff sich über das Individuum und seine Willkür stellt, verwirft Stirner als hassenswerte Schranke seiner selbst. Schade, dass nicht zu diesem Buche - dem extremsten, das wir überhaupt kennen - eine zweiter, positiver Theil geschrieben wurde. Es wäre leichter möglich gewesen, als zur Schelling'schen Philosophie; denn aus dem schrankenlosen Ich hinaus kann ich als meinen Willen und meine Vorstellung auch jede Art von Idealismus wieder erzeugen. Stirner betont in der That den Willen dermassen, dass er als Grundkraft des menschlichen Wesens erscheint. Er kann an Schopenhauer erinnern. - So hat alles seine Kehrseite!


Franz Szeliga

Der Einzige und sein Eigenthum. Von Max Stirner. Kritik von Szeliga. In: Stirneriana. Nummer 20, 2001, S. 14-15, Verlag Max-Stirner-Archiv

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Wenn daher der Einzige sagt: Ich setze nur Mich voraus, so setzt er damit nur die ganze Weltgeschichte voraus, und wenn er hinzufügt: ich bin Schöpfer und Geschöpf in Einem, so macht er die Weltgeschichte, die er Selbst ist, zugleich zu Seiner Schöpfung, d. h. der Einzige, der sich auch als den gedankenlosen Leibhaftigen charakterisirt, ist die leibhaftige Weltgeschichte. Freilich ist er nicht diese Masse von Individuen und Völkern, die sich im Dien­ste der Menschheit abgequält haben und von ihr aus Dankbarkeit auf den Mist der Geschichte geworfen worden sind – auf den Mist der Geschichte hat sich der Leibhaftige eben nicht werfen lassen – er ist der Einzige, dessen Leib der Geist der Geschichte ist. Und in diesem Leib, der Geist ist, steckt nun ein Geist, der Leib, weil gedankenlos ist. Durch diese gänzliche Umkehr offenbart sich der Einzige nunmehr als den ächten Spuk. (...) Der Einzige ist folglich das Gespenst aller Gespenster; denn der Geist der Geschichte, der Geist überhaupt, die Gedanken sind ihm eine äußere Hülle, ein weißes Laken, worin als Kern der bloße, blanke Leib, die Gedankenlosigkeit. (...) Mit seinem eigenen Principe gemessen, dem Princip überall Gespenster zu sehn, wird der Einzige, wie wir gesehn haben, zum Gespenst aller Gespenster.  


Th. Achelis

Ethische Probleme. In: Die Gegenwart. XXVII. Jg., 53. Band. Nr. 10. Berlin, 5. März 1898, S. 151.

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Die so pomphaft verkündete Souveränität des Individuums, das in seiner jeglichen Verpflichtung unzugänglichen Erhabenheit erklären darf: Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt, führt auf das originelle, wenn auch völlig widerspruchsvolle Buch jenes philosophischen Nihilisten: Der Einzige und sein Eigenthum zurück, das schon im Jahr 1845 erschien. Stirner war, wie Hartmann darlegt, von Fichte ausgegangen, wie Nietzsche von Schopenhauer, und hatte gezeigt, daß das empirische Ich, der vergängliche Schöpfer seiner selbst, praktisch absolut sei und sein Geschöpf, die Erscheinungswelt, auch ganz und gar als sein Eigenthum zu betrachten habe, mit dem er in souveräner Willkür schalten könne. Die Geschichte der Philosophie ist über diese wahnsinnige Selbstvergötterung zur Tagesordnung übergegangen, und wird es wieder thun, so oft sie wieder auftaucht. Aber wie Stirner das unschätzbare Verdienst gebührt, die Feuerbach’schen Halbheiten durch seine unerbittlichen Consequenzen für immer ad absurdum geführt zu haben, so wird seinem Werk das dauernde Verdienst verbleiben, allen späteren verwandten Bestrebungen die Masken vom Antlitz zu reißen und sie in ihrer Nacktheit als bloße Verirrungen des Größenwahns kenntlich zu machen. Wer sich an Nietzsche’s Vexirmasken als einer neuen und tiefen Weisheit erbaut, sollte deshalb vor allen Dingen nicht unterlassen, auf Stirner’s geniales Meisterwerk zurückzugreifen, das in stilistischer Hinsicht hinter Nietzsche’s Schrift nicht zurücksteht, an philosophischem Gehalt aber sie thurmhoch überragt. Freilich bedarf es kaum ernsteren Nachdenkens, um sich zu überzeugen, daß der völlige Illusionismus, in welchem diese speculative Vergötterung des Ich endet, sich mit jeder Erfahrung und jeder exacten Erkenntnißtheorie nicht verträgt, er ist vielmehr ganz und gar mystisch, obschon hier wieder die Beziehung auf die bedeutungsvolle transcendente Substanz fehlt. Auch hier liegt, wie so häufig, die Wahrheit in der Mitte der Extreme. 


Bettina von Arnim

Die Auflösung des Einzigen durch den Menschen. In: Die Epigonen. 4. Band. Leipzig 1847, S. 251.

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Das Resultat vom Buche des Einzigen ist also: Daß der Einzige für die Idee des Ichs nur ein Gesetz des Menschen kennt, nämlich: den freien Willen zu jedes Vortheil, welches er, wie es beim Geist allein wohl richtig wäre, bis zum ärg­sten Kampfe ausgedehnt wissen will, während wir doch einen ma­teriellen zer­brechlichen Körper haben! Daß er sehr viele gewandt herbeigeholte, aber gezwungene und darum falsche Wen­dungen gemacht hat, um seine Idee des Ichs im Erdenleben aufrecht zu erhalten. Daß er eben so seiner Idee des Ichs zu Liebe, oder aus Unkenntniß den Sinn vieler Worte falsch gebraucht, und auf die Weise sie bekämpft, z. B. „Recht, Freiheit, Beruf,“ so gut, wie „der Mensch,“ daß sein Widerspruch wider den Denkproceß, den er bei Br. Bauer sehr richtig bestreitet, Nichts sagt, weil er ihn selbst in diesem Buche als einziges Mittel mit großer Folge­richtigkeit anwendet. Nach seiner Ausfüh­rung darüber dürfte er gar nicht mit sprechen. Es könnte ihn nicht berühren. Er bringt aber das Ich des Menschen zur richtigen Würdigung. Dadurch haben wir einen be­sonderen Vortheil. Es geht aus dieser Eigenheit des Einzelnen erst recht die Fortdauer des Menschen hervor. Müßten alle Menschen nur das stereotype Ebenbild eines guten Menschen sein, so wäre wohl an einem Exemplar genug. Es ist ein Beweis unserer Zukunft. Ein Fehler bleibt es aber immer, daß er den Kampf unter Menschen für nöthig hält, indem er höchstens das Vereinen kennt, aber kein Recht.


Jürgen Habermas

Dass Absolute und die Geschichte im Denken Schellings. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde vorgelegt der Phil. Fakultät der Rhein. Friedr. Wilh.-Universität zu Bonn. Bonn 1954. S.24,25

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Der Einzige ist absoluter – omnipotenter und endlicher – Zeitlicher zugleich ist als je gegenwärtiger ganz das, was er ist, aber er ‚ist‘ seine Zeit, das heisst er ändert sich nicht nur in jedem Augenblick, sondern er ist nicht mehr ‚er‘, der er war, und nicht der, der er sein wird: er ist der, der er jeweils gegenwärtig ist. An dieser Konsequenz wird die Absurdität der Stirnerschen Raserei offenbar: denn hier zeigt sich die Allmacht des Einzigen als die Ohnmacht desjenigen, über den die Macht der Zeit widerstandslos hinwegspült, wie über einen Stein, der ja auch in jedem Augenblick das „ganz“ ist, was er ist. (...) Der „Einzige“ hat keinen Inhalt, er ist die Bestimmungslosigkeit selbst, er ist es der allererst Bestimmungen setzt. Womit Stirner Sartres Umkehrung von essentia und existentia vorwegnimmt. Der Einzige lässt sich nennen und anerkennen, niemals aber erkennen.


Amelie von Heydebreck

Max Stirner. Der Einzige und sein Eigentum. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.03.2003

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Heißt man Schmidt, dann ist das Verfassen eines Buches über den Egoismus möglicherweise zwingend. Schmidt zu heißen genau wie all jene um einen herum, die durch ihre schier massenhafte Existenz täglich aufs neue die Individualität jedes einzelnen Schmidt zu überrollen, zu überdecken, auszulöschen drohen, das ist bestimmt nicht leicht – es sei denn, man heißt mit Vornamen Harald und bekommt viel Geld dafür, daß man sich jeden Abend im Fernsehen über den Massen-Schmidt an sich lustig machen darf. Max Stirner hieß eigentlich Johann Caspar Schmidt. Mit seiner 1844 verfaßten philosophischen Schrift "Der Einzige und sein Eigentum" webte er sich, einfach ausgedrückt, dagegen, nur ein Schmidt unter vielen Schmidts sein und nicht sich selbst, dem einzelnen Stirner-Schmidt, sondern immer nur der Sache aller Schmidts oder sonst einer höheren Sache dienen zu sollen. (...) Das Buch, das zwischendurch verboten war, strotzt vor solchen Beschwörungen des Einzelnen, des Eigentums, des Selbstgenusses, und beinahe alle großen Denker, die es lasen, ob Schmitt (!)‚ Steiner, Habermas, sahen sich auf gefährliches Terrain geführt. War das purer Anarchismus? Prototypischer Faschismus? Radikaler Nihilismus? Wegbereitung für den modernen Individualismus? Oder etwa, und das wäre das Gefährlichste, nichts von alldem, sondern Aufklärung, konsequent weitergedacht? (...) Unbefangen Lesende könnten der Gefahr erliegen, das Buch nach den vielen großgeschriebenen "Ichs" durchzuzählen und jedes einzelne davon auswendig zu lernen, und, hießen sie dann zufällig auch noch Schmidt, würden sie sich vermutlich vor lauter Begeisterung ob ihrer neu entdeckten Relevanz als jeweils Einzelne sofort umbenennen wollen in, sagen wir: Stirner? "So blödsinnig sind indes nur Wenige daß man Ihnen nicht Ideen beibringen könnte", schreibt Stirner selbst. Jeder könnte auf die Idee kommen, Stirner heißen zu wollen. Stirner wird der neue Schmidt. Gefährlich.


H. Ibrahim Türkdogan

Die Philosophie des Einzigen. Unveröffentlichtes Manuskript, 2003, ca. 70 Seiten.

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Stirners Gespenst ist, das er kein Gespenst hat. Und das ist das größte Gespenst, das Gespenst der Gespenster. Und das ist sein Dogma, das durch einige seiner Interpreten verständlicher- und auch konsequenterweise in eine »gottlose Mystik« hineingeführt und dadurch aufgelöst wird. Ob Stirner seine Leser absichtlich in die Irre führt, indem er den »Einzigen« nicht verdeutlicht, kann ich nicht beurteilen. Es ist eine typische Art von Sprachkritik, die eine Sackgassen-Mentalität zeigt.


Ludwig Binswanger
Binswanger, Ludwig: Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. Max Niehmann, Zürich 1942. S. 457-458.

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Stirners Konstruktion des Einzigen.

[...] Zur Widerlegung obigen Einwandes wählen wir wieder ein Beispiel, und zwar gleich den extremsten in der Literatur niedergelegten „Fall“ systematischer Bestreitung eines Seins zum Grunde und ebenso systematischer Verteidigung einer reinen Selbstbehauptung aus dem rein singularen Sein, den „Fall“ Stirner. Es ist durchaus kein unbedeutender Gegner, den wir hier wählen: ein sehr gewandter Stilist und Dialektiker, ein leidenschaftlicher Revolutionär und Kämpfer, aber im Gewande eines Diktators, ein geistiger Nihilist, aber mit den Waffen des Geistes, ein Bekämpfer aller ethischen Tradition und Erziehung, aber von starkem erzieherischem Pathos, ein Einziger, aber mit einer Stimme, die sich an Alle wendet und von Allen gehört sein will. Womit er uns aber von vornherein den Kampf leicht macht, das ist das primitive ontologische Gerüst, auf dem er steht, der Gegensatz nämlich von Exemplar (Einzigem) und Gattung, ein Gegensatz, der schon kaum mehr ontologischer, sondern in erster Linie logischer Provenienz ist. Aber immerhin, dieser Gegensatz wird leidenschaftlich von unserem Autor gelebt, ähnlich wie von Schopenhauer, aber mit umgekehrter Front. Hier überlegene Parteinahme für die Gattung, bei Stirner eifernde Inthronisierung des individuellen Exemplars. Hat man sich einmal in jenen begrifflichen Gegensatz verstrickt, so wird eine Lösung anthropologischer Fragen unmöglich. An ihre Stelle treten dogmatische und begriffliche Prämissen und eristische Verfechtung derselben.


Roland Topor
Memoiren eines alten Arschlochs. Diogenes 1977, S. 36.

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Ein Jahr später kam ich in Begleitung des treuen Frantz in Paris an. Wir hatten das Hotel von Sachsen und Luxemburg kurz nach meiner Begegnung mit Lautrec verlassen. Diese zwölf Monate waren dem Reisen gewidmet gewesen. Da die großen Hotels in jener gesegneten Zeit immer um Personal verlegen waren, hatten wir keine Mühe, uns mal hier, mal da, wie es uns gerade gefiel, als Aushilfe anstellen zu lassen. Ich hatte nacheinander die folgenden Länder besucht: die Schweiz und Deutschland wegen Füssli, Böcklin, Stirner, Kubin; Österreich wegen Klimt, Schiele, Loos; Italien wegen Monsú, Bracelli, Gandini und da Vinci; Spanien wegen Arrabal, Goya und Gracián, und jetzt kam ich nach Frankreich, nicht um die Meister zu bewundern, sondern um ihrem Beispiel zu folgen.


Michel Foucault
Hermeneutik des Subjekts. Suhrkamp 2004, S. 313.

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Nehmen Sie zum Beispiel Stirner, Schopenhauer, Nietzsche, den Dandyismus, Baudelaire, das anarchistische Denken usw., all das sind zwar sehr unterschiedliche Versuche, doch sie drehen sich alle mehr oder weniger um die Frage: Ist es möglich, eine Ethik oder eine Ästhetik des Selbst auszubilden oder wiederherzustellen? Um welchen Preis und unter welchen Bedingungen?


Ludger Lütkehaus

In der Mitte sitzt das Dasein. Die Philosophen Günther Anders und Peter Sloterdijk lesen zweierlei Heidegger. Die Zeit, 05/2002.

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Anders rückt Heidegger in die Nähe von Max Stirners "Einzigem" und seinem eigentlichsten "Eigentum", von Fichtes "sich setzendem" Ich (den späten Heidegger freilich in die Nähe Plotins). Ein "provinzieller Mittelständler" frönt in der Rolle des philosophischen Selfmademan seinem "Homunculus-Komplex", der zwar das "In-der-Welt-Sein", aber nicht das "In-die-Welt-gesetzt-Sein" akzeptiert. Zur Not schlägt das im wörtlichsten Sinn selbstsüchtige, das nach Selbst süchtige, Dasein auch die Wege der Selbstzucht, der "Züchtung" ein. Hier nähert Anders den von Stirner und Fichte her gelesenen Heidegger Nietzsche an.


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