Elias Canetti | Albert Schott | Rüdiger Safranski |
Gilgamesch,
wohin läufst du? |
Gilgamesch: Rede, mein Freund! Rede, mein Freund! Das Gesetz der Erde, die du sahst, verkünde mir jetzt! Enkidu: Ich kann es dir nicht sagen, Freund, ich kann es dir nicht sagen. Künde ich dir das Gesetz der Erde, die ich schaute, so wirst du dich hinsetzen und weinen. - Tafel XII -
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Jim
Morrison
Ein
amerikanisches Gebet. Karin Kramer
Verlag Berlin, 4. Auflage 1990, S. 87
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Sphären II Globen. Verlag Suhrkamp, 1999,
S. 174-177
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Das
babylonische Gilgamesch-Epos -- ältestes Dokument imperialer Erzählkunst,
zwischen dem 21. bis zum 6. Jahrhundert vor Christus in vier
verschiedenen Sprachen überliefert »Utnapitschim
spricht zu ihm, zu Gilgamesch: >Warum
sind abgezehrt deine Wangen, gebeugt dein Antlitz, Ist
Harm in deinem Gemüt da, Gleicht
einem Wanderer ferner Wege dein Antlitz, Ist
von Nässe und Sonnenglut dein Antlitz versengt, ...
und läufst in die Steppe?< Gilgamesch
sprich zu ihm, zu Utnapitschim: >Utnapitschim, sollen meine Wangen nicht abgezehrt sein, nicht gebeugt mein Antlitz?
Nicht unfroh mein Herz, nicht verlebt meine Züge, Nicht
Harm in meinem Gemüte sein, Nicht
gleichen einem Wanderer ferner Wege mein Antlitz, Nicht
von Nässe und Sonnenglut mein Antlitz versengt sein, ...
ich nicht in die Steppe laufen? Mein
Freund, der flüchtige Maulesel, der Wildesel des Gebirges,
der Panther der Steppe! Engidu,
mein Freund, der flüchtige Maulesel, der Wildesel
des Gebirges, der Panther der Steppe!
Nachdem wir, alles gemeinsam verrichtend, den Berg erstiegen,
Die Stadt ... einnahmen, den Himmelsstier töteten,
Auch den Chumbaba umbrachten, der da wohnte im Zedernwald, in
den Pässen der Berge Löwen töteten! Mein
Freund, den ich über die Maßen geliebt, Der
mit mir durch alle Beschwernisse zog — Es
hat ihn ereilt die Bestimmung des Menschen. Und
ich weint‘ um ihn sechs Tage und sieben Nächte, Ich
gab nicht zu, daß man ihn begrübe, Bis
daß der Wurm sein Gesicht befiel. Mir
graute vor meines Freundes Aussehn, Ich
erschrak vor dem Tod, daß ich lief in die Steppe! Meines
Freundes Sache lastet auf mir, Daß
ich lief einen fernen Pfad in die Steppe!<« (Zehnte
Tafel. Das Gilgamesch-Epos, neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von
Albert Schott, durchgesehen und ergänzt von Wolfram von Soden, Stuttgart 1958,
S. 83-84.)
Vom
holistischen Idyll zeigt diese Todesreflexion keine Spur. Der weite Radius von
Gilgameschs Trauerfahrt gibt das Maß seiner Verwundung an; sein Scheitern bei
dem Unternehmen, das Lebenskraut nach Hause zu bringen, stempelt ihn für alle
Zeit zum metaphysischen Verlierer, der nun, der eigenen Sterblichkeit überführt,
die Differenz zu den Vollgöttern zu respektieren hat; und nur die Tatsache, daß
er am Ende der Reise nach Uruk-Gart, seinem Herrschersitz, zurückkehrt, gibt
dem epischen Prozeß eine Abrundung, die einem Trost durch die Form als solche
gleichkommt. Gilgameschs Reise faßt die Trauer in einen kompletten Kreis. Natürlich
kann im babylonischen Imperium das Double des Königs, der tote Intimfreund,
nicht mehr (wie wichtige Tote in manchen Dörfern der frühen Stämme) unter dem
Mittelpfosten des Gemeinschaftshauses bestattet werden, um als häuslicher
Geist dem Leben der Seinen beizuwohnen. Die Zähmung seines Verschwindens
geschieht nicht mehr durch den animistischen Nahverkehr mit einem konvivialen
Jenseits. Um dem toten Engidu in seine radikale Entfernung zu folgen, muß
Gilgamesch die Grenzen der Welt, soweit die babylonische Vorstellung von Weite
und Größe reicht, ausschreiten. Die Trennungsspanne ist weltenweit geworden;
die Fern-Nähe des unverlierbaren Verlorenen hat kosmische Züge angenommen. Fünfundvierzig
Tagesreisen legt der Held zurück, um am Rand der Welt das Mittel gegen den Tod
zu finden. Versteht man, an welchen Rändern er sich hier bewegt? Welche
Grenzwasser
sind es, über die der Trauerheld mit seinen steinernen Rudern übersetzt? In
welchem Hybridmeer muß er tauchen, um das Wunderkraut zu finden? Die epischen
Bilder lassen die äußeren Extreme in die der Innenwelt zurückschlagen. Von
einer Vorfreude auf Wiedervereinigung der Liebenden im Jenseits ist in dem ältesten
Epos nicht die Rede. Doch wird die babylonische Kultur im ganzen zum
Resonanzraum für die Erzählung von heroischer Freundschaft, Verlustkatastrophe
und Trauerfahrt. Über anderthalb Jahrtausende ist in den mesopotamischen
Reichen das Drama von der Trennung der Unzertrennlichen und von der königlichen
Suche nach einem Kraut gegen den Tod immer wieder von neuem erzählt worden. Im
Blick auf diese Erzählströme läßt sich die Vermutung wagen, daß Imperien
nicht nur Rechts-, Verwaltungs- und Anmaßungsräume sind, sondern daß sie,
wenn sie als beseelte Sphären Bestand haben wollen, in gewissem Ausmaß auch
Hall-Räume für zivilisierende Klagen und Resonanzkörper für Mitgefühl mit
exemplarischen Menschenschicksalen sein müssen. _________________________________
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Die Fackel im Ohr. Fischer Verlag, 1993, S. 51-52
Unter
den Schauspielern, die oft auftraten, war Carl Ebert, anfangs regelmäßig, später
kam er als Gast. Er ist Jahre danach für ganz andere Dinge berühmt geworden.
Ich sah ihn in seiner Frühzeit, als Karl Moor, als Egmont. Ich gewöhnte mich
an ihn in verschiedenen Rollen, ich wäre auch nur um seinetwillen in eine Aufführung
gegangen und darf mich dieser Schwäche nicht einmal schämen, denn ihr habe ich
das wichtigste Erlebnis der Frankfurter Zeit zu danken. In einer
Sonntags-Matinee sollte er ein Werk vorlesen, von dem ich noch nie etwas gehört
hatte. Es war älter als die Bibel, ein babylonisches Epos. Ich
wußte,
daß es bei den Babyloniern eine Sintflut gab, es hieß, daß die Legende von
dort in die Bibel gewandert war. Das war alles, was ich zu erwarten imstande
war, und dafür allein wäre ich nie hingegangen, aber es war Carl Ebert, der
las, und so bin ich aus Schwärmerei für einen sehr liebenswerten Schauspieler
an Gilgamesch geraten, der mein Leben,
seinen innersten Sinn, Glauben, Kraft und Erwartung wie nichts anderes bestimmt
hat. „Um ihn hab ich Tag und Nacht geweint, Ich gab nicht zu, daß man ihn begrübe – Ob mein Freund nicht doch aufstünde von meinem Geschrei – Sieben Tage und sieben Nächte, Bis daß der Wurm sein Gesicht befiel. Seit er dahin ist, fand ich das Leben nicht, Strich
umher wie ein Räuber inmitten der Steppe.“ Und nun folgt seine Unternehmung gegen den Tod, die Wanderung durch die Finsternisse des Himmelsberges und die Überquerung der Gewässer des Todes zu seinem Ahn Utnapischtim, der von der Sintflut errettet, dem von den Göttern Unsterblichkeit verliehen wurde. Von ihm will er erfahren, wie er zum ewigen Leben gelangt. Es ist wahr, daß Gilgamesch scheitert und daß er selbst auch stirbt. Aber das bestärkt einen nur im Gefühl von der Notwendigkeit seines Unternehmens. Die Wirkung eines Mythus habe ich auf diese Weise an mir erfahren: als etwas, das ich im halben Jahrhundert, das seither verflossen ist, auf viele Arten bedacht und in mir hin und her gewendet, aber nicht einmal ernsthaft bezweifelt habe. Als Einheit habe ich aufgenommen, was in mir Einheit geblieben ist. Ich kann daran nicht mäkeln. Die Frage, ob ich eine solche Geschichte glaube, trifft mich nicht, wie soll ich, angesichts der eigentlichsten Substanz, aus der ich bestehe, entscheiden, ob ich an sie glaube. Es geht nicht darum, wie ein Papagei zu wiederholen, daß alle Menschen bis heute gestorben sind, es geht nur darum, zu entscheiden, ob man den Tod willig hinnimmt oder sich gegen ihn empört. Ein Recht auf Glanz, Reichtum, Elend und Verzweiflung aller Erfahrung habe ich mir durch die Empörung gegen den Tod erworben. In diesem endlosen Aufstand habe ich gelebt. Und wenn der Schmerz um meine Nächsten, die ich im Laufe der Zeit verlor, nicht geringer war als der des Gilgamesch um seinen Freund Enkidu, so habe ich doch eines, ein einziges vor dem Löwenmann voraus: dass es mir um das Leben jedes Menschen und nicht nur um das meiner Nächsten geht. _________________________________
Elias Canetti Das Gewissen der Worte. Fischer Verlag, 1995, S. 277-278
Es sind kaum hundert Jahre her, daß der mesopotamische Gilgamesch entdeckt und in seiner Bedeutung erkannt wurde. Dieses Epos beginnt mit der Verwandlung des unter den Tieren der Wildnis lebenden Naturmenschen Enkidu in einen Stadt- und Kulturmenschen, ein Thema, das uns heute, da wir Konkretes und sehr Genaues von Kindern erfahren, die unter Wölfen gelebt haben, erst recht nahe angeht. Es mündet, da Enkidu seinem Freunde Gilgamesch wegstirbt, in eine ungeheure Konfrontation mit dem Tod, die einzige, die den modernen Menschen nicht mit dem bitteren Nachgeschmack des Selbstbetrugs entläßt. Hier möchte ich mich als Zeugen für einen beinahe unglaubwürdigen Vorgang anbieten: kein Werk der Literatur, buchstäblich keines hat mein Leben so entscheidend bestimmt wie dieses Epos, das viertausend Jahre alt ist und bis vor hundert Jahren niemand bekannt war. Im Alter von siebzehn Jahren bin ich ihm begegnet, es hat mich seither nicht losgelassen, ich bin zu ihm zurückgekehrt wie zu einer Bibel, und es hat mich, abgesehen von seiner spezifischen Wirkung. mit Erwartung auf uns noch Unbekanntes erfüllt. Es ist mir unmöglich, das Corpus der überlieferten Dinge, die uns zur Nahrung dienen, als abgeschlossen zu betrachten, und selbst wenn es sich erweisen sollte, daß keine schriftlich fixierten Werke von ebensolcher Bedeutung nachkommen, so bleibt das enorme Reservoir des durch die Naturvölker mündlich Überlieferten.
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Das Gilgamesch-Epos. Reclam 1988, S. 3 Man erwarte hier keine Würdigung der wunderbaren Dichtung, die neu übersetzt [1958, Reclam] sich darstellt. Ihren Reichtum zu erschöpfen, sind wenige Zeilen nicht imstande. Ihren Sinn ergründen wollen heißt die Welt zu verstehen suchen. Aber wer ihren Geist ahnt, wird auch auf eigene Faust in dies Werk eindringen dürfen, tiefer und tiefer entdecken, was sie bedeutet, diese Einheit in der Verbindung heldischer Unbefangenheit mit weltversunkenem Grübeln, ermessen, welche Strahlen alle des Lebens dort im einigen Brennpunkt einer stolzen und reinen, tiefblickenden Weltansicht zusammenschießen.
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Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? Carl Hanser Verlag, S. 90-91, 2003. Die Lichtung sei ein Ort der Wahrheit, der Unverborgenheit, sagt Heidegger. Muß man nicht zuerst Platz schaffen, um etwas zu erkennen? Muß man nicht Bäume fällen, um sie als Bäume überhaupt erkennen zu können? Bedeutet der Triumph der Wahrheit, daß die Wüste wächst? Bleiben die Wälder nicht stets eine dunkle Bedrängnis für die Kulturen, die als Lichtung in sie hineingeschlagen wurden? Dazu
eine andere Geschichte, die älteste: das Gilgamesch-Epos,
aufgezeichnet von den Sumerern, 2000 Jahre vor Christus. Gilgamesch,
der sagenhafte König von Uruk, ist der erste Gegner des Waldes. Er möchte
den bewaldeten Berg der Zedern erobern, den Walddämon
erschlagen und die Bäume fällen. Er hat über die Mauern seiner
Stadt geblickt und gesehen, wie die Leichen den Fluß hinabtreiben.
Gilgamesch lehnt sich gegen die Sterblichkeit auf: er errichtet eine
neue Stadt, Mauern gegen die wuchernde und verwesende Vegetation: Ich
möchte das Land betreten, ich möchte meinen Namen auf richten. Am
Ende wird ihn die Verzweiflung einholen: Der
Mensch, der größte, kann sich nicht zum Himmel strecken, Der
Mensch, der breiteste, kann die Erde nicht bedecken.
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