Max Stirner und das unsagbare Ich oder der Einzige ohne Geschlecht von H. Ibrahim Türkdogan
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Schon
der Untertitel dieses Artikels – nimmt man es genau – weist auf einen
Widerspruch hin. „Der Einzige ohne Geschlecht“? Wie das? Wir könnten
das Problem schnell lösen, wenn wir nämlich den
Einzigen und die Einzige auf das Einzige
reduzieren. Dann hätten wir in der Tat ein geschlechtsloses Einziges. Bloß:
das gleiche Modell müssten wir fast auf jedes Adjektiv anwenden, um das
sprachliche Übel von Grund auf zu beseitigen. Eine feministische Säuberungsarbeit
diesbezüglich wäre der radikale Wunsch aller Feministinnen. Diese Arbeit
oder zumindest der Versuch, diese Arbeit zu vollbringen, hat in den 70er und
80er Jahren des letzten Jahrhunderts in einigen abendländischen Sprachen
stattgefunden. Mit welchem (Miss)-Erfolg? Verweilen
wir zunächst einmal kurz in der feministischen Säuberungsarbeit. Im Jahr
1977 erschien in Norwegen ein Roman unter dem Titel Egalias
Dotre (Die Töchter Egalias) für Menschen mit feministischem
Bewusstsein oder für Wibschen sollte man lieber sagen, denn
das Wort Mensch (Hebr. Mann) ist ja männlich, also bot das Buch neue
Wörter an: Wibsche für Mensch, Unwibsche für Unmensch, matriotisch für
patriotisch, Schambeutel für Hoden, Frauschaft für Herrschaft, Luzia für
Luzifer und weiß der Teufel bzw. die Luzia was noch alles. Der Roman wurde
1980 ins Deutsche übersetzt und bekam den Untertitel Ein
Roman über den Kampf der Geschlechter, der ironisch verstanden werden
sollte (?). Der Roman hatte die Sprache und auch die Rollen in einer
umgekehrter Form beschrieben, um am Ende zu zeigen, dass auch ein
Matriarchat die Unterdrückung eines Teils der Gesellschaft nicht beseitigen
kann. Die deutsche Autorenschaft trug merkwürdigerweise den Namen G. Brantenberg. Einige Feministinnen assoziierten das „G Punkt“ mit dem G-Punkt. Das Buch war ein Erfolg, vor allem wegen seines „ironisch-satirischen“ Inhalts. Die Absicht der Autorin war eine fundamentale Umfunktionierung der (männlichen bzw. menschlichen) Sprache. Herausgekommen war Alles in Allem ein phantasievolles Sprachspiel, mit dem Harald Schmidt mehr Erfolg hätte als alle Feministinnen zusammen. Seriöse Wissenschaftler schrien um Hilfe: „Unsere alte gute Deutsche Sprache wird Weibisch-Egalitanisch“. Viele Sprachwissenschaftlerinnen, Linguistinnen, Feministinnen unternahmen den vielversprechenden Versuch, die Männersprache auf den Kopf zustellen, um Frauen die Möglichkeit zu schaffen, auf ihren Frauenbeinen zu stehen. Die Linguistik, die doch nur eine Maskulinguistik war, so sagte frau, wird ab heute als Weibistik getauft. So hieß Max Stirner nicht mehr Max Stirner, sondern Maxa Stirnerin. Weg mit dem Einzigen, her mit der Einzigen. Der gute alte Kant hieß mit dem Vornamen Immanuella. Alle Denker und Politiker wurden umgetauft: Martina Heideggerin, Josefina Stalinka, Adolfina Hitlerike, Ayatolline Khomeinin usw. usw. Ein Sprachwandel mit einem Hintergrund, der den Beginn einer weiblich-abendländischen Aufklärung andeutete, endete so prompt, wie er plötzlich begonnen hatte. Außer ein paar Spuren ist davon heute nichts geblieben. Diese Spuren liest man auch zwischen den Zeilen des in diesem Heft erschienenen Textes von Jürgen Mümken. Ist
die Beseitigung des sprachlichen Übels auch die Beseitigung des Übels an
sich? Der Irrtum aller Feministinnen ist der Glaube an eine angebliche Wahrheit
der Sprache. Hätte man in der Tat ein sprachlich geschlechtloses
Einziges, hätte man dadurch auch ein geschlechtloses Einziges auf der
Denkebene? Es gibt Sprachen, die sehr wohl geschlechtslos sind. Sind denn
aber die Sprechenden dieser Sprachen deshalb auch geschlechtslos?
Keineswegs! Ob also die Sprache geschlechtslos ist oder nicht, trägt nicht
dazu bei, den Einzigen zu erklären.
Der Begriff des Einzigen, so wie
ihn Stirner fasst, hat kein Geschlecht. Das hat auch Jürgen Mümken
erkannt. Er hat aber etwas missverstanden. Was
aber diese Geschlechtslosigkeit mit der „anarch(ist)ischen Individualität“
und dem „Anarcha-Feminismus“ zu tun hat, wird nicht nachgewiesen. Und
wenn Lohschelder Stirners Ideen für ihre feministisch-anarchistischen Ausführungen
nicht tauglich hält, dann tut sie nichts falsches damit. Sie hat erkannt,
dass es Stirner nicht um Feminismus oder Anarchismus geht, sondern eben um
den Einzigen. Die Autorin gibt ja
zu erkennen, dass sie eine Anarchistin und eine Feministin ist. Beide Wörter
haben bestimmte Inhalte, bestimmte Strukturen, haben Geschlechter usw.
Stirner würde diese Begriffe als Phantome negieren. Jedes Wort ist ein
Phantom, auch das Wort Einzige.
Der Einzige ist wohl von Grund aus
bestimmungslos. Hiermit unterscheidet er sich von allen anderen Begriffen.
Er kann durch andere Begriffe niemals eine Bestimmung, einen Inhalt
bekommen; er ist inhaltslos. Dennoch ist der Einzige
das inhaltsvollste Wort, er ist nämlich der Inhalt aller Begriffe und
deshalb das größte Phantom, die größte Illusion. Weil aber diese
Illusion bestimmungslos, unsagbar, nicht definierbar, gegenstandslos ist,
ist sie keine Illusion. Sie hat einen Doppelsinn, einen gegensätzlichen
Doppelsinn, der uns als Paradoxon bekannt ist. Die
von Mümken thematisierte Kritik Feuerbachs an Stirner ist ein klares
Beispiel dafür, dass der Einzige aus der Perspektive der Geschlechtslosigkeit zu untersuchen
ist. Feuerbach hatte an Stirner die Bestimmungslosigkeit, die
Geschlechtslosigkeit erkannt, aber Stirner eine neue Heiligkeit, die des Einzigen
nämlich, vorgeworfen. Einen ähnlichen Vorwurf machte Mauthner, indem er
Stirner eine „Ichbesessenheit“ zusprach. Und Mauthner stand unter dem
Einfluss der allgemein verbreiteten Meinung, Stirner sei ein Anarchist, ohne
diese Behauptung jemals gründlich untersucht zu haben. Mümken scheint
ebenfalls diesen Fehler zu begehen. Wenn der Einzige
unsagbar ist, dann ist jeder Begriff, auch der Anarchismus, eine
Fehlinterpretation. Es sei denn, der Anarchismus hat ebenfalls einen
Anspruch auf Bestimmungslosigkeit. Aber das scheint nicht der Fall zu sein.
(Hierzu habe ich in einem gesonderten Ort Stellung genommen: Stirner und die
Anarchisten.[1])
Geschlechtslos
ist der Einzige auf der Denkebene,
aber nicht in Anbindung an die (deutsche) Sprache. Mir scheint, viele
Muttersprachler missverstehen die Macht der geschlechtsdominierenden
Sprachen und erkennen ihre Abhängigkeit von der Sprache nicht; sie scheinen
der Sprache unterworfen zu sein trotz ihrer angeblichen „Sprachkritik“.
Statt die Sprache zu analysieren,
kleidet man sich mit einem Teil der Sprache, um den anderen Teil zu
vernichten. Es scheint mir eine Illusion zu sein, durch die geschlechtslose
Sprache eine „Geschlechtergleichheit“ zu bewirken. Als
ich Teile aus Stirners Der Einzige und sein Eigentum ins Türkische übersetzte, war ich
mir sicher darüber, dass eine türkische Stirner-Leserin das sprachlich
bedingte Geschlechtsproblem nicht haben wird, weil diese Sprache dieses
Problem gar nicht kennt. Sie hat nämlich kein Geschlecht. Andererseits
divergieren das Geschlecht der Sprache und das des Menschen voneinander
diametral. Auch eine türkische Leserin, sogar eine Silke Lohschelder, die
Sibel Sevgi heißen könnte, wird bei Stirner für ihr
feministisch-anarschistisches Gedankengut nicht viel finden. Denn sie sucht
ja nichts anderes als feministischen Anarchismus; sie folgt einem Dämonen
oder einer Dämonin, um genau zu sein. Und den und die gibt es bei Stirner
in der Tat nicht. Der Feminismus betreibt, wenn überhaupt, eine
Pseudosprachkritik und nicht mehr. Männlichkeit
und Weiblichkeit als kulturelle Rollen in der Gesellschaft werden in
Anlehnung an vorgegebene Normen erhalten. Doch ein biologischer
„Determinismus“ des Geschlechts ist auch vorgegeben jenseits von Kultur
und Normen. Will Mümken jede Heterosexualität als Zwangsheterosexualität
erklären? In seinem Kampf für die Gleichheit hat der Feminismus nach
vielen Dämonen gesucht. Der hier thematisierte Dämon ist der
„Gleichheitsfeminismus“. Wenn Mümken die biologischen Unterschiede
zwischen Mann und Frau akzeptiert, warum akzeptiert er nicht auch die
unterschiedlichen Geschlechtsfunktionen? Hat der Körper keine Wirkung auf
den Geist und auf die Psyche? Ist der Körper nur eine leere Hülle, wie die
christliche Kirche es behauptet? Einem biologischen Menschen kein Geschlecht
zuzusprechen, hieße sein Geschlecht für tot erklären. Mümken verwechselt
biologische Geschlechts-Unterschiede mit sozialen Geschlechterrollen.
Soziale Geschlechterrollen dienen der Lebensform der jeweiligen
Gesellschaft. Der Einzige hält es
für notwendig, sich von diesen Rollen zu befreien. Aber wozu den Körper
„denaturieren“? Eine Geschlechtsumwandlung zum welchen Zweck? Ist der Einzige das sogenannte dritte Geschlecht? Stirners logische
Konsequenz war: „kein Begriff drückt mich aus“. Das war ein
Schlussstein unter der Sprache.
Eine feministische Sprachsäuberungsarbeit zu unternehmen, wie Mümken es
tut und es für notwendig hält, ist daher nur eine neue Sprachherrschaft,
neue Sprachunterdrückung, neues Sprachsklaventum. Stirner unternimmt damit
keine Denaturierung des Körpers, wie Mümken merkwürdigerweise behauptet,
sondern schreit der Logik dessen Ende ins Gesicht. Und den Genuss des Körpers
konnte Stirner nur bewilligen, um sich auszuleben. Mümken hat sich nun mal
in den Kopf gesetzt, Stirner in die Nähe des Anarcha-Feminismus und des
Poststrukturalismus zu bringen – koste es was es wolle! So lautet seine
Devise. Er gibt teilweise zu, dass er einer Interpretation von Stirners Werk
nicht gewachsen ist und bemäntelt dies mit der Behauptung, es wäre ein
anti-stirnerisches Unterfangen, eine wahre Interpretation von Stirner zu
liefern. Irrtum! Der Interpret dürfte sich nicht hinter so einem listigen
Wort wie Wahrheit verstecken. Stirner hat ein philosophisches Werk
niedergeschrieben, welches den logischen Sprachregeln zugrunde liegt. Eine neutrale
Betrachtung seines Werkes ermöglicht dem Interpreten, die Wahrheit des
Buches zu erkennen. Man kann sich aber immer täuschen. Und tatsächlich, betrachtet man die vorliegende Literaturlage (...), so ist man mit Gerhard Lehmann geneigt festzustellen, dass die bisherige Stirnerliteratur weitgehend völlig wertlos ist. Doch Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel[2], hat Christian Berners zu Recht beurteilt. Wertlos ist diese Literatur zum größten Teil deshalb, weil die Interpreten in Stirner unbedingt das sehen, was sie sehen wollen! Der Individualanarchist Mackay, der von jeglicher wissenschaftlicher Fähigkeit weit entfernt war, wollte Stirner, gefolgt von einer neurotischen Handlung, als den größten Individualanarchisten betrachten wissen. Mümken versucht mit einer Debatte über Natur und Unnatur, die Sexualität des Menschen zu erklären. Gott ist tot, es lebe die Natur. Die Natur wurde, nach dem der Gott seinen Thron verlassen hat, als Alternative zu Gott in menschliche Angelegenheiten einbezogen. Jeder, aber auch jeder versucht, die menschlichen Probleme mit Hilfe der Natur zu erklären. Selbst die Priesterschaft der christlichen Kirche erklärt Homosexualität für unnatürlich, als ob das Nichtausleben der Sexualität von der Priester- und Nonnenschaft ein Gesetz, eine Vorschrift der Natur sei. Man müsste eigentlich spätestens nach dieser Aussage der Priester- und Nonnenwelt erkennen müssen, dass man mit der Natur weder menschliche Angelegenheiten und schon gar nicht die Sexualität definieren kann. Alles wäre ein Fehlschlag. Denn die menschliche Natur ist dem Menschen nicht bekannt. Und die Natur anderer Lebewesen ist so vielfältig, dass sie nicht als Maß dafür stehen kann. Daher ist jedes Argument, welches sich auf irgend eine Natur beruht, eine Fehlinterpretation. So will ich auf die diesbezüglichen Behauptungen und Argumente von Mümken verzichten. Doch seine Stirner zugesprochene „eigene Sexualität“ verdient hier eine Auseinandersetzung. Stirners „eigene Sexualität“ sei der Teil einer „freien“ oder einer „anarch(ist)ischen Individualität“ und lehne damit den „Individualismus bürgerlich-liberaler Gesellschaften, in deren Tradition sich die ‚sogenannte sexuelle Revolution‘ steht“, ab. Was ist eine „freie“ oder „anarch(ist)ische“ „Individualität“? Dies wird von Mümken nicht vorgestellt, wobei er sich mit dem Poststrukturalismus reichlich auseinandersetzt. Und die „eigene Sexualität“ bleibt ebenfalls im Unklaren. Er liefert dazu lediglich zwei Andeutungen, die die „eigene Sexualität“ ziemlich kurios und unbeschreiblich darstellen, als ob Stirner seine sexuelle Stellung, sein Sein in der Welt ohne Mitsein von anderen praktiziere. Stirner gehe ausschließlich von einem Selbstverhältnis aus, ohne jedwedes Nicht-Ich in gesellschaftlich-voraussetzungsloser Form. Der Einzige ignoriere gesellschaftliche Konstituierungspraktiken und Konstituierungsbedingungen des Selbst. Damit hätten wir in der Tat den größten Onanisten der Welt oder den größten Priester aller Zeiten. Wenn
Geschlecht und Geschlechtskörper nur durch Sprache erzeugt werden, wie Mümken
es feststellt, dann sind auch Individualitäten und Anarchismen ebenfalls
Sprachprodukte. Diese erst recht! Aber nein, Mümken will ohne Geschlecht
und ohne Geschlechtskörper in Anarchismen oder in einem bestimmten
Anarchismus oder in Individualitäten seine „Inter-
und Transsexualität“ in
Form der „eigenen Sexualität“ ohne Mitsein der anderen durchführen. Zum
Glück waren unsere Urahnen ein wenig heterosexuell, da wir heute
andernfalls gar nicht fähig wären, über sie zu reden. Einen Stirner hätte
es wohl auch nie gegeben. Dann hätten wir das Problem Stirner und erst
recht uns selbst nicht. Jürgen Mümken beweist die Mehrgeschlechtlichkeit
durch Beispiele aus Mexiko und Indonesien und behauptet,
Zweigeschlechtlichkeit sei nur ein abendländisches Produkt. Er vergisst,
dass diese fernen Gesellschaften nicht nur Transsexuellen einen Lebensraum
geben, sondern auch Hetero- und Homosexuellen. Wilhelm Reich, für den Mümken
wahrscheinlich keine Sympathie pflegt, hatte in seinen Forschungen auf frühere
Gesellschaften hingewiesen, in denen Heterosexualität dominierend
praktiziert wurde, obwohl diese Menschen nicht irgend einer Herrschaft,
Autorität oder kapitalistischer Unterdrückung verfallen waren; sie waren
sogar ziemlich anarchisch (ohne Regierung). In Teilen Indiens werden
Transsexuelle heute noch als Geschenk Gottes geehrt, aber die Sexualität überhaupt
wird als eine Frucht begehrt, auf die niemand verzichten will. Für die Überwindung
von Patriarchat und Zwangsheterosexualität ist also eine Dekonstruktion des
Geschlechts oder eine Denaturierung des Körpers nicht notwendig, sondern
ein Körperbewusstein, welches frei von kulturell bedingten körperfeindlichen
Zwängen ist. Auch wenn die Sprache kulturdominant erscheint, ist sie nicht
die einzige Kraft, die diese Zwänge aufheben kann. Denn wie wir von
geschlechtsneutralen oder geschlechtslosen Sprachen wissen, herrscht das
Patriarchat auch in diesen sprachlichen Hordengemeinschaften. Oder will Mümken
etwa behaupten, dass eine Gesellschaftsform, in der türkischsprechende und
türkischdenkende Menschen
leben, dem Patriarchat nicht zugrunde liegt? Wohl kaum. Auf die Idee der
Denaturierung des Körpers kommen wohl Menschen, die – ihre Trans- und
Homosexualität in den Vordergrund stellend – gesellschaftliche Änderungen
beabsichtigen. Hetero- und Homosexualität gab es zu jeder Epoche, aber
letztere wurde jeweils von verschiedenen Ideologien verfolgt, ob diese
sprachlich geschlechtsneutral waren oder nicht. Daher ist die feministische
Sprachkritik untauglich und lediglich ein unter Umständen geistreiches
Gedankenspiel. Eine Dekonstruktion der geschlechtsgebundenen Sprachen, um
eine sprachliche Geschlechtsneutralität zu erreichen, ist möglich und
gesellschaftsbedingt und nicht individuell. Denn Sprache hat in der
Gemeinschaft ihren Kommunikationssinn. Der
Einzige, der seiner „eigenen
Sexualität“ zugrunde liegt, sei nicht durch die Gesellschaft
determiniert, sagt Jürgen Mümken. Die Gesellschaft sei ein Raum, „‚aus
welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe‘ (EE 5) und eben nicht das
‚schöpferische Nichts‘“. Was haben wir hier für einen Schöpfer –
Stirner? Einen Buddha oder einen Johannes Paul II. in der deformierten Form
eines abendländischen Anarchisten? Warum wird das „schöpferische
Nichts“ von dem schöpferischen Ich getrennt? Tut Stirner irgend so etwas
in der Art? Trennt Stirner das Ich vom Nichts? Wenn ja, wann tut er das? An
der Stelle, an der Mümken es tut – Gesellschaft und der Einzige
bzw. das Individuum? Warum ist diese Trennung notwendig? Und vor allem für
wen notwendig? Der
Einzige und das Individuum. Für Mümken
ist das eine wie das andere; ob der Einzige
oder das Ich – alles ist Individuum. Individuum ist ein abendländisches
Produkt. Wenn Mümken das Abendland in seinem Text schon reichlich angreift,
warum dann nicht gründlich? Raoul Vaneigem, für meinen Geschmack ein
hervorragender Situationist aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts,
sagte einmal, das Individuum sei eine Erfindung der Bourgeoisie. Der Begriff
der Bourgeoisie hat heute keine Geltung, aber der des Individuums um so
mehr. Stirner war kein Bourgeois und streng genommen auch kein
Individualist. Stirners Einziger
und sein Ich erlebten in ihrer Rezensionsgeschichte eine bis in die
Unkenntlichkeit deformierte Pervertierung, so dass sogar seine kühnsten
Interpreten (Mauthner) diese Falle nicht erkannten. Das
Problem des Stirnerschen Nichts hat schon einige seiner Interpreten beschäftigt.
Manche haben schon am Anfang ihrer Kritik so schnell wie möglich die Flucht
ergriffen, wie etwa Mümken. Warum? Günther
Anders, der sich durch die Atombombe einen Namen gemacht hat, hat sich mit
Stirner beschäftigt. Eine Beschäftigung darf man eigentlich nicht sagen,
denn seine Interpretation von Stirner war so kurz und deutlich, auf die
Schnelle geschrieben, etwa im Vorübergehen, fast blitzartig, dass seine
Flucht schwere Spuren hinterlassen hat. Anders, für manche ein
anarchistischer Bombendenker, versucht mit Marxscher Manier, in Marx’
billigem Spottstil, Stirner schlicht einen Kleinbürger zu nennen, welcher mangels
massiveren Eigentums, als sein
schlechthinniger Alleineigentümer und Schöpfergott geriert.[3]
(...) Die
Attitude ist die des vom mächtigen Bürgertums überholten und nicht
konkurrenzfähigen Kleinbürgers; des
Mannes, der, in Heideggers Worten,
freilich in sehr viel konkreterem
Sinne, in der ‚Angst um seine eigene Existenz‘ vor
dem ‚Nichts‘ steht.[4]
Auf einer knappen
halben Seite wird Stirners Nichts und sein Einziger – um ein Wort des
Marxismus zu benutzen – „widerlegt“. Auf einer anderen halben Seite
„widerlegt“ er Stirners Egoismus folgendermaßen: Die Autonomie der Person ist in Anarchie umgeschlagen, da
die Person, die bei Kant und Fichte gerade nicht das jeweilige Individuum bedeutet
hatte, sich zum empirischen ‚Mich‘,
zum Berufsegoisten, konkretisiert
hat.[5]
(...) Da
auch er, Stirner, nichts hat, da er sich
andererseits in einer Situation befindet, in der Freiheit zu erkämpfen außer jedem Betracht liegt, bleibt
ihm nichts anderes übrig, als ‚sich
selbst zu haben‘ – ein
Ausdruck, der in der weisen deutschen Sprache zugleich bloßes Protzen
anzeigt.[6]
Ich frage mich
ernsthaft, ob Anders, ein für mich in mancher Hinsicht wichtiger und
sympathischer Denker, sich dabei sehr weise vorkam? Beginnen wir mit dem
letzten Zitat. Sprache kann keine Weisheit hervorzaubern und schon gar nicht
die deutsche Sprache. (Ausführlicheres hierzu findet man in meinem
Nietzsche-Dialog[7]).
Sich haben. Es ist das mindeste
aber auch das schwierigste, worum es in den verschiedenen Philosophien geht.
Anders hat sich aber zu sehr mit der Bombe auseinandergesetzt, so dass er
von ihr zerstückelt wurde und bis zu seinem Lebensende damit beschäftigt
war, seine zerlegten Teile zusammenzuflicken. Die Bombe übte auf Anders
einen bombigen Druck, durch den er seine Freiheit verloren sah, aber
gleichzeitig zu erkämpfen versuchte. Verblendet durch die politische Macht
des Landes schuf er einen antiquierten deutschen Konservatismus, den er mit
allen Händen festhielt, um ein stabiles Ich zu erhalten. Durch die
Uneigentlichkeit, die sich nach außen hin in der Parole Kampf
gegen die Bombe präsentierte, lebte Anders in einer entpersonalisierten
Welt, in der jedes Ich in Form einer Materie durch die Individualisierung
vulgarisiert wurde. Das vulgarisierte Individuum warf nun Stirner den
Vulgarismus, den „Berufsegoismus“ in Form des empirischen Ich vor.
Stirner hat sich, Anders beneidet
ihn, gefolgt von dem Gefühl der Kränkung. Stirner hat
sich, Anders hat sich nicht. Stirner hat
sich, Anders hält sich an seinem Konservatismus fest. Jürgen
Mümken versucht aus Bequemlichkeit und einseitigem Verhalten in Stirner bloß
einen Individualanarchisten zu sehen. Der Individualismus, welcher auch
immer, im Zeitalter der (Post)Moderne hat sein lang gesuchtes ewiges Glück
gefunden mit seinem großgeschriebenen Späßchen für den Alltag. Das
Individuum ist ein bis zum Ende individualisierter Konsument seines Selbst.
Er hat sich zu Ende individualisiert, er hat sich überwunden. In der
modernen Industriehorde hat sich fast jede Gemeinschaft, jedes Projekt, jede
Institution zu einem Club des Individualismus entwickelt. Dem
Individualismus liegt Konsumbewusstsein zugrunde; eine Angelegenheit, die im
Einzigen und im Ich nicht zu suchen ist. Ob der Einzige oder das Ich oder eben das Individuum, alle diese Begriffe werden unter der Perspektive des Individualismus untersucht, als seien sie untrennbar voneinander. Dabei liegt eine Unzertrennlichkeit dem Nichts mit dem Ich zugrunde. Für Stirner ist das Nichts das Haus, aus dem das Ich geboren wird, aus welchem sich das Ich schöpft und schafft. Ohne das Nichts wird auch das Ich nicht geboren. Das Ich des Einzigen ist die Nachfolge Gottes. Dieses Nichts ist die Quelle aller Akte des Einzigen, welche einer Fixierung, einer Reduzierung nicht zugrunde liegen. Das Ich des Einzigen ist unaussprechbar, wobei es als die letzte Phrase bezeichnet werden kann, um das letzte Wort aussprechen zu können. Stirner selbst nennt es Phrase. „Die einen beruhigten sich bei der ‚wahren, ganzen Individualität‘, die doch nicht von der Beziehung auf die ‚Gattung‘ frei wird; andere bei dem ‚Geiste‘, welcher gleichfalls eine Bestimmung ist, nicht die völlige Bestimmungslosigkeit.[8] (...) Der Einzige ist die aufrichtige, unleugbare, offenbare – Phrase; er ist der Schlussstein unserer Phrasenwelt, dieser Welt, in deren ‚Anfang das Wort war.‘“[9] Das macht den geschlechtslosen Einzigen aus. Geschlechtslos, weil unaussprechbar. Der Einzige ist das einzige Bewusstsein des Menschen und der Inbegriff aller Gedanken; das Alles in Allem. Das Ich ist die Füllung des Nichts. Fußnoten [1]
H.I.T.: Max
Stirner und die Anarchisten. Der Einzige. Vierteljahresschrift des
Max-Stirner-Archivs Leipzig, Nr. 4 (8), 3. November 1999. [2]
Christian
Berners: Max Stirners Verhältnis zu Hegel. Der Einzige, Nr. 1 (17), 3.
Februar 2002, S. 4. [3]
Günther
Anders: Über Heidegger. C.H. Beck, 2001, S. 53.
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