Die
Uneigentlichkeit der Völker und der Einzige
Gedanken
zur Psychoanalyse Max Stirners
von
H. Ibrahim Türkdogan
Ritual und Neurose
Ich
bin von dem drohenden Tod so sehr gezeichnet, dass
der wirkliche Tod für mich seinen Schrecken verloren hat.
-
Antonin Artaud -
Erster Schritt
Ein Gesang besteht aus
einer rhythmischen Struktur. Dieser sorgt für melodische Einheit.
Diese Einheit kann in vielen Takten zum Ausdruck gebracht werden.
Ein Tanz. Ein Gesang. Ein Gefühlsausdruck. Ein rhythmischer Akt
wie ein Feuertanz in Begleitung von einem Gesang aus dem Kehlkopf
drückt Gefühle und Gedanken aus. Was hier zunächst wie eine
Struktur zu sein scheint, ist ein Chaos ohne Gedanken- und Gefühlsausbruch.
Inneres Chaos ist eine äußere Struktur mit bestimmten Gedanken
und Gefühlen. Ja, es ist ein Ritual im ursprünglichsten Sinn.
Halten wir das fest und stellen gleichzeitig folgende
Frage: Was ist Kultur?
Zweiter Schritt
Der
Mensch des Überlebens ist der Mensch der Angstlust,
der
Mensch des Unvollendeten, der Mensch der Verstümmelung.
-
Raoul Vaneigem -
Ein Volk oder eine Gruppe,
eine Gemeinschaft, die sich als Resultat einer perfekten Dressur*
in der Gegenwart bewegt, versteht unter dem Kulturbegriff ästhetische,
intellektuelle, juristische, sittlich-religiöse Gewohnheiten und
die Organisierung der sozialpolitischen, wirtschaftlichen und
militärischen Angelegenheiten. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft
haben in der Regel einen nicht-rhythmischen, aber einen hoch
monotonen Tagesablauf. Um in den Tag hineinzuleben, hat ein
Mitglied eine Tagesgebrauchsanweisung nötig, die aus bestimmten
Fakten besteht - nennen wir sie "für den Tag erforderliche
Hauptbedürfnisse." Alle anderen sogenannten Bedürfnisse
finden zwischen diesen Fakten statt, die in Kleinbedürfnis-Kategorien
eingeteilt sind, falls man sie wahrzunehmen imstande ist. Für
diese Art des Lebens ist ein Plan entworfen worden. Die
Zeiteinteilung des modernen Menschen ist so wichtig wie sein
Herzschlag. Doch beide funktionieren unabhängig voneinander.
Die
Entstehung der Neurose
Anstatt
"sich zu machen", scheint der Mensch "gemacht zu
werden" durch das Klima und das Land, die Rasse und die
Klasse, die Sprache, die Geschichte der Kollektivität, der er
angehört, die Vererbung, die individuellen Umstände seiner
Kindheit, die angenommenen Gewohnheiten, die großen und kleinen
Ereignisse seines Lebens. -
Jean-Paul Sartre -
Mit dem Aufstieg der
modernen Anthropologie in Deutschland gegen Ende des 19. und
Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Bewußtsein der Menschen
hierzulande für die nächsten Jahrzehnte bedeutend bestimmt. Das
über sich selbst denkende Wesen, genannt Mensch, wollte Kultur
von der Natur getrennt sehen. Aus dieser Perspektive kann man
sagen: Je mehr eine Gesellschaft technisiert ist, desto mehr hat
sich eine naturungebundene Lebensart entwickelt. Weniger
rhythmische Existenz sorgte um so mehr für monotones Dasein.
Der philosophische
Ausgangspunkt der Anthropologen lag zunächst einmal darin, den
Menschen mit zwei weiteren Lebewesen, Pflanze und Tier, zu
vergleichen. Max Scheler beispielsweise hat in seiner
Stufentheorie gezeigt, dass zunächst einmal alle Lebewesen durch
ihren, wie Scheler sagt, Gefühlsdrang miteinander verbunden sind.
Schließlich werden Tier und Mensch von der Pflanze durch ihre
Intelligenz und im Laufe der Stufenleiter endlich der Mensch von
den beiden Lebewesen durch sein Geistwesen völlig getrennt. Als
Geistwesen erfährt der Mensch, dass er der Natur entfremdet ist.
Dass er die Natur unter seinen Füßen verliert. In diesem Gefühl
des Nichtseins wählt er entweder das Dogma, das Christentum usw.
oder den Geist, d. h. die Möglichkeit, ganz Mensch zu werden. Das
ist der Beginn der Neurose einerseits und der Beginn eines
geistigen Rituals andererseits.
Die
Menschwerdung. Die Stellung des Menschen im Kosmos
Bevor wir Gedanken über
diese Frage verschwenden, müssen wir einer anderen Frage
nachgehen, die nicht weniger wichtig ist: welche Stellungen nehmen
andere Lebewesen ein?
Woran kann man die
sogenannte Sonderstellung des Menschen erkennen? Ist es die
Tatsache, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, die Erde vom
Mond aus zu betrachten oder dass er das erste Wesen ist, das in
das biologische Wirkungsgefüge soweit eingegriffen hat, dass
dieses droht nicht mehr zu funktionieren?
Dass der Mensch auf
dieser Welt und sogar außerhalb ihrer Grenzen seine
"sonderbare" Fähigkeit in die Tat umgesetzt hat, daran
besteht keinen Zweifel. Und es besteht kein Zweifel, dass der
Mensch imstande ist, mit Hilfe des Experimentierens mit Tieren
seine eigene Stellung und die des Tieres im Rahmen der
rationalistischen Wissenschaft zu charakterisieren; dennoch aber
bleibt die Frage, ob diese Erkenntnisse auch wirklich zutreffen,
da diesen Kriterien bestimmten Faktoren, wie zeitabhängigem Bewußtsein
oder Ethik usw., zugrunde liegen. Und die andere Frage ist, was
hat das Tier davon, sofern man es als Mitwesen auf dieser Welt
anerkennt?
Würde der Mensch den
Tieren die gleichen Rechte zuerkennen wie sich selbst, wie würde
er mit ihnen umgehen?
Die moderne Pädagogik
sieht einen wichtigen und positiven Charakter in der Entwicklung
des Kindes durch seine Wahrnehmung des Tieres im sogenannten
Tiergarten. Woran sollen sich die Kinder gewöhnen? An einem Genuß
von Sadismus, Masochismus und dergleichen? An einem Gedanken des
Triumphs?
Trotz der menschlichen
Intelligenz, die dem Menschen in der Weltkontingenz zu eigen ist,
Sprache, Kunst, Religion, kurz Kultur zu schaffen und
Atomkraftwerke zu bauen oder mit unserer durch Sublimierung
entstandenen Aggressivität und Destruktivität in kürzester Zeit
alles zu vernichten, bleibt dennoch die Frage, ob das alles ein
sinnvolles Ergebnis unserer verdrängten Triebe ist. Oder ist gar
zu behaupten, der Mensch sei die Krönung der Schöpfung? Kann man
hier von einem Triumph sprechen? Triumph über wen, über das
Tier, die Welt oder über uns selbst, da wir imstande sind, uns
selbst mit den modernsten Werkzeugen, die wir durch unsere
Intelligenz erschafft haben, zu vernichten?
Verdrängte Triebe und die Kultur als zweite
Sozialisation des Menschen
W.
Reich empfiehlt, affektgesperrten und gleichzeitig muskulär-hypertonen
Neurotikern zu Wutausbrüchen zu verhelfen. Dieser Typ der Neurose
scheint mir heute besonders weit verbreitet zu sein: es handelt
sich um die Krankheit des Überlebens. Das Überleben ist das auf
die Gebote der Ökonomie reduzierte Leben. Das Überleben ist
folglich heute das auf das Konsumierbare reduzierte Leben.
-
Raoul Vaneigem -
In den 1970er Jahren hat
der Biologe Konrad Lorenz mit seinem Buch "Das sogenannte Böse"
diesen Gedanken des Triumphs auf die Spitze getrieben. Der
Nobelpreisträger Lorenz geht von der gleichen Logik aus, indem er
das Tier untersucht und seine daraus gewonnenen Ergebnisse auf den
Menschen überträgt. Dabei hat Lorenz die Tiere nicht in der
Natur erforscht, sondern nur unter von Menschen für Tiere
errichtete Einrichtungen (Zoo, Aquarium usw.). "Die Rückschlüsse
aus seinen Forschungen auf den Menschen zieht er alle über eine
einzige Person, die er nur auf einer halben Buchseite vorstellt.
Anlass der Übertragung seiner Aquariumforschungen an
Buntbarschen, Perlmutterfischen und Cichliden auf den Menschen ist
für Lorenz eine angebliche Ähnlichkeit zwischen den
Aggressionsverhältnissen bei Fischen und denen seiner Tante.
Konrad Lorenz' Tante war ohne Zweifel in jenen Fremd- und
Selbstschädigungsmechanismus verfangen, der das Böse
kennzeichnet."[1]
Lorenz' Tante litt u. a.
unter Zwangsneurosen. Erstens geht
Lorenz von einem falschen Ausgangspunkt aus, da er Tiere in
Laboratorien untersucht: man kann von eingesperrten Tieren gewiss
keine sichere Informationen über Natur des Tieres erreichen.
Zweitens überträgt er seine falsche Informationen auf Menschen
und zwar in diesem Fall auf einen neurotischen Menschen.
Wissenschaftliche
Forschung ist erstens abhängig vom Zeitgeist und kann sich
zweitens vollkommen irren. Ja muss sich sogar in diesem Kontext
irren. Denn: alle Informationen, die der Mensch über das Tier
gewinnt, sind lediglich seine, d. h. menschliche Informationen,
aus der menschlichen Perspektive gewonnene Ergebnisse.
Ist diese sogenannte
Sonderstellung nicht eher eine dem Menschen eigentümliche Überlebensstrategie
und ein vernunftgebundenes Gefühl der Überheblichkeit? Wobei das
Tier dem Menschen als Versuchsobjekt zur Verfügung steht, stehen
muss.
Martin Heidegger ist von
dieser Logik fasziniert, als ob die anthropologische Theorie ihm
sehr gelegen kommt. Heidegger verdeutlicht diese Logik:
"Durch die Vernunft erhebt sich der Mensch über das Tier,
aber so, dass er ständig auf das Tier herabblicken, es unter sich
bringen, mit ihm fertig werden muss." Was will Heidegger
beweisen? Hat der Mensch einen Minderwertigkeitskomplex durch das
"Tierische" in sich, weshalb er auf das Tier in sich
herabblicken muss? Wie eine große Weisheit verkünden Heidegger
und mit ihm auch viele Biologen, dass das Tier nicht
"ich" sagen kann, dass es überhaupt nichts sagen kann.
Worum
geht es eigentlich?
Die Menschen als das
auserwählte Volk? Was ist die Sonderstellung des Esels im Kosmos?
So könnte man die Frage auch stellen. Und das tat Günter Anders,
um Schelers tragikomische philosophische Anthropologie zu
parodieren. Hinter der Sonderstellung liegt die Sonderaufgabe, die
besondere Mission. Durch sich seiend beauftragte Gott Adam und Eva
mit Sonderaufgaben. Ihr Wesen wurde damit bestimmt. Waren die
Menschen als Sondervolk auserwählt, so war der nächste Schritt
nicht sehr weit. Nämlich ein bestimmtes Menschen-Volk war
sondergestellt. Dieses haben manche Anthropologen (z. B.: A.
Gehlen) ernsthaft behauptet.
Es ist wohl eine
allgemein anerkannte "Tatsache", dass sich der Mensch
von den Tieren unterscheidet, doch ein Affe unterscheidet sich,
wenn auch nicht in gleicher Weise, aber doch erheblich von einer
Katze und diese von einem Fisch. Und alle diese Arten besitzen Fähigkeiten,
die die jeweils andere Art nicht besitzt.
Wo ist also da die Krönung?
Ist dieser Gedanke eine
Art Besessenheit, eine fixe Idee?
Ist der Mensch im Besitz
einer Welt durch seine Weltoffenheit bzw. durch seine
Weltenthobenheit, wo und was ist das Kriterium?
Im Westen ist alles aus dem
Triumph des formalen Verstandes hervorgegangen.
Ja,
wir sind Tiere; wir leben von Tieren, und Tiere leben von uns. Und
wenn wir uns liebend vereinigen, so tun wir es nach den wahren
Worten der Theologen more bestiarum. Die Liebe selbst ist von
Grund aus tierisch: und gerade darin liegt ihre tiefe Schönheit. - Rémy de Gourmont
Ist es ein Zufall, dass
der Mensch anstatt Lebenserhaltungs- und -verbesserungswerke zu
vollbringen, Waffenarsenale erschaffen hat, um sich endgültig zu
vernichten? Der Triumphgedanke hängt mit dieser
"Vernichtungslust" zusammen. Im Angesicht der Weltkrise
spielt dieser Gedanke eine erheblich große Rolle.
Sartre, für den der
Mensch zum freisein verurteilt ist, sieht den Menschen ebenfalls
wie manche Anthropologen ursprünglich im Nichts. Er hat gewiss
einiges mit den Anthropologen gemein. Auch Sartre begreift den
Menschen zunächst als einen Entwurf, aus dem er sich dann zu dem
machen wird, zu dem er sich machen kann. Sartres Philosophie liegt
aber nicht einer Anthropologie zugrunde. Wahrscheinlich deshalb
triumphiert Sartre nicht über die Welt. Die Gottwerdung, von der
manche Anthropologen sprechen, setzt die Weltwerdung voraus. Damit
dürfte der Mensch nicht Welthaben im Sinne der Anthropologen,
sondern Weltsein. Weltenthobensein kann Weltentfremdung zur Folge
haben, was den Menschen, psychoanalytisch betrachtet, zerstören
kann. Welthaben und Weltsein müssen aber nicht als Gegensätze
verstanden werden.
Hier liegt Stirners
Ansatz.
Das ganze Gebäude der
zweitausendjährigen abendländischen Denkart (namentlich:
Judentum, Christentum, Islam) einschließlich die moderne
Anthropologie wird von Stirner aufgegriffen und Stein für Stein
zerrüttelt, um aus den Trümmern der Monotonien, der falschen
Gewohnheiten einen wahren, d. h. ursprünglichen Rhythmus der
Existenz, des Herzschlags entstehen zu lassen. Was Freud und mit
ihm die Anthropologen Sublimierung nannten, nannte Stirner
Fremdbestimmung. Was die Psychoanalytiker Neurose nannten, nannte
er fixe Idee. Welthaben und Weltsein setzt nach Stirner nicht
voraus, sich zu entfremden. Im Gegenteil: "Wenn der Mensch,
so wie ihn der Existentialist begreift, nicht definierbar ist, so
darum, weil er anfangs überhaupt nichts ist. Er wird erst in der
weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich geschaffen
haben wird."[2]
Die Menschwerdung im
Sinne von Stirner lässt Fremdbestimmung nicht zu, fördert
Selbstbestimmung und Kreativität. Die moderne Pädagogik hindert
das Kind immer noch an seiner selbstbestimmten, kreativen
Entfaltung, sie schreibt ihm immer noch vor, ja diktiert ihm, wie
es zu einem gutchristlichen Bürger wird. Ihr Diktat geschieht
heute sehr geschickt, nicht direkt, sondern verdeckt. Überall
lauern Neurosen in der Pädagogik, überall fixe Ideen,
beispiellos. Das Herz Jesu hält seine Kinder immer noch fest.
Seine Kinder, Adam und Eva, schwören ihm Gefolgschaft. Kein
Wunder, daß ein gewisser Konrad Lorenz zu einem Nobelpreisträger
und Stirner zum Spott der Akademiker wird. Jedes Handeln zur Förderung
der staatlichen Vollmacht wird von Staatsbevollmächtigten gekrönt,
gefördert.
Dem zufälligen Sosein
des Tieres setzt der Mensch sein Dasein entgegen. Mit einem Nein
durchbricht er sein Jetzt-Hier-So-Sein, mit dem Ziel, die
Wirklichkeit zu transzendieren. Durch die Triebverdrängung, durch
die Unterdrückung der Triebimpulse, durch das Verzichten auf
diese Energie wollte der Mensch eine neue Energie entstehen
lassen, die er zu geistiger, sprachlicher, intellektueller kurz
kultureller Aktivität zu sublimieren beabsichtigte.
Zwei Theorien können
wir in der Geschichte des abendländischen Menschen betrachten,
die, wenn sie auch so gegensätzlich zu sein scheinen, den
gleichen Kultur-Menschen hervorgebracht haben. Die erste Theorie,
genannt Klassische Theorie (einige Vertreter seien hier genannt:
Averroes, Spinoza, Kant, Hegel,
usw.), die dem Geist Autonomie und Macht zuspricht, basiert
auf einem geistigen und allmächtigen Gott, der durch seinen Geist
der allmächtige Gott ist. Die zweite Theorie, genannt Negative
Theorie (Schopenhauer, Paul Alsberg und S. Freud usw.) vertritt
die Meinung, daß alle kulturerzeugenden Tätigkeiten des Menschen
nur durch jenes Nein erst erstehen. Das Ergebnis beider Theorien
ist ein neurotisches Produkt, genannt Mensch.
Max Scheler hat die
Sublimierung in ihrer höchsten Form definiert. Ihm zufolge findet
Sublimierung in jedem Vorgang statt, indem Kräfte einer
niedrigeren Sphäre des Seins im Werdeprozess der Welt in den
Dienst höherer Gestaltungen gestellt werden, wie beispielsweise
die Elektronen in den Dienst der Atomgestalt und die anorganischen
Kräfte in den Dienst der Lebensstruktur. Seine kosmische
Schilderung der Sublimierung bringt Scheler dann anschließend auf
den letzten Punkt: "Die Menschwerdung und die Geistwerdung müsste
dann als der bislang letzte Sublimierungsvorgang der Natur
angesehen werden."[3]
Was
der Affe für den Menschen ist, ist der Mensch für den Übermenschen.
Für den vollkommen geistgewordenen Menschen ist der Übermensch
immer noch ein Affe. Anders formuliert: Der überwundene Affe will
den Menschen als Schmach und Scham überwinden und führt zum Übermenschen,
welcher den Weg der Geistwerdung bzw. der Gottwerdung geschlagen
hat. "Was ist der Affe für den Menschen?" fragt
Nietzsche und seine Antwort: "Ein Gelächter oder eine
schmerzliche Scham. Und eben das soll der Mensch für den Übermenschen
sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham."[4]
Der Mensch ist lediglich ein Mittel zur Erreichung des
Übermenschen (Nietzsche), welcher ein Mittel zur Erreichung des
Gottmenschen (Scheler) ist. Das ‚Projekt Gottwerdung des
Menschen' findet seinen End-Wurf durch den Untergang des Menschen
und des Übermenschen im Gottmenschen.
Es ist Zeit den Affen sprechen zu lassen!
Nach Scheler gibt es
keine göttliche Instanz, die den Menschen zur Krone der Schöpfung
erhöhen kann, also bleibt nur noch die Macht, sich selbst zu erhöhen.
Nur welchen Sinn soll das haben? Herabblickend auf Tiere und
Pflanzen, um über sie zu triumphieren, ergibt keinen Sinn. Der
Mensch hat auch die Macht (Möglichkeit), das Tier als Mitwesen
anzuerkennen. Wäre das eine Akt gegen die Kultur? Das wäre auf
jeden Fall die Umkehrung der Perspektive. Eine Gegenkultur?
Zurück zum ersten Schritt
Es ist wahr, dass die Höflichkeit
(und die Zeremonie insgesamt) nicht mehr das ist, was sie einmal
war. Aber weil wir ihr einen Sinn verleihen wollen, wird sie bei
uns zur Heuchelei. -
Jean Baudrillard -
Es ist Zeit den Affen
sprechen zu lassen!
Franz Kafka hat einen
anderen, einen entgegengesetzten Weg geschlagen als die
Trium-phierenden. In seiner Schrift "Ein Bericht für eine
Akademie" versucht er das Problem des Tierseins unter der
Herrschaft des Menschen aus der umgekehrten Perspektive zu
beschreiben. Aus der Perspektive eines Affen, wobei die
Perspektive eines Affen vom Menschen niemals verstanden werden
kann, versucht Kafka das Drama eines lebendigen Wesens als Knecht
in der menschlichen Gesellschaft zu deuten, um anschließend auf
die Folgen der unterdrückten Triebe hinzuweisen. Dabei verwendet
er bewusst die entgegen-gesetzte Perspektive der Biologen und
Anthropologen.
Der Affe, genannt
Rotpeter, wird von einer Akademie aufgefordert, über sein äffisches
Vorleben zu berichten: "Als ich in Hamburg dem ersten
Dresseur übergeben wurde, erkannte ich bald die zwei Möglichkeiten,
die mir offenstanden: Zoologischer Garten oder Varieté. Ich zögerte
nicht. Ich sagte mir: setze alle Kraft an, um ins Varieté zu
kommen; das ist der Ausweg; Zoologischer Garten ist nur ein neuer
Gitterkäfig; kommst du in ihn, bist du verloren. (...) Es gibt
eine ausgezeichnete deutsche Redensart: sich in die Büsche
schlagen; das habe ich getan, ich habe mich in die Büsche
geschlagen. Ich hatte keinen anderen Weg, immer vorausgesetzt,
dass nicht die Freiheit zu wählen war."[5]
Rotpeter
sieht in der Gefangenschaft nur die eine
Möglichkeit, den Menschen nachzuahmen, um zu überleben. Mit dem
Verzicht auf sein äffisches Leben, durch seine Triebunterdrückung,
versucht er Mensch zu werden. Rotpeter kleidet sich wie ein
Mensch, wohnt bei den Menschen, er ist gesellschaftlich etabliert,
ist ein berühmter Künstler, kurz, er führt ein spießbürgerliches
Leben. Er hat die Durchschnittsbildung eines Europäers erreicht.
Erreicht hat er dadurch auch, aus dem Käfig raus zu kommen.
Rotpeter ist ein in die menschliche Gesellschaft integrierter,
assimilierter Affe, der sein Affentum überwunden hat.
Unter dem Einfluss der
Darwinschen Evolutionstheorie vertraten damals viele
Tierpsychologen die Meinung, durch Nachahmung, Dressur die
Evolution der Tiere beschleunigen zu können. Statt auf eine zufällige
Entwicklung zu warten, wollte man die Tiere innerhalb einer
Generation auf die Entwicklungsstufe des Menschen bringen.
Kafkas Erzählung
spiegelt die menschliche Entwicklung wieder. Das nichtfertige
Wesen Mensch zielte auf die volle Menschwerdung durch die
Triebunterdrückung. Die erweiterte Freudsche Psychoanalyse sah in
der Sublimierung eine Möglichkeit, die Zivilisationsentwicklung
fortzutreiben, deren Fortentwicklung wir heute in der Gentechnik
beobachten können.
Was dem Affen Rotpeter
widerfahren ist, sollte Ziel des Menschen sein, der noch im
Affenfell ein denkendes Wesen ist. Der Mensch im Werden begreift
sein gegenwärtiges Sein nicht, sowenig er das Sein des Tieres
versteht. Das Rätsel seines Seins will er durch das Enträtseln
des Tieres, indem er das Tier zur Kopie seines undefinierbaren
Charakter erzieht, begreifen. Das ist die erste Voraussetzung zur
Gottwerdung. Die zweite ist die Vernichtung des Menschen.
Heidegger weiß das positiv auszudrücken: "Um das Wesen des
bisherigen Menschen allererst feststellen zu können, muß der
bisherige Mensch über sich hinausgebracht werden. Der bisherige
Mensch ist sofern der letzte Mensch, als er es nicht vermag, und
das heißt, es nicht will, sich unter sich zu bringen und das Verächtliche
seiner bisherigen Art zu verachten. Darum muß für den bisherigen
Menschen der Übergang über sich selbst hinaus gesucht, darum muß
die Brücke gefunden werden zu dem Wesen, als welches der
bisherige Mensch der Überwinder seines bisherigen und letzten
sein kann."[6]
War der Mensch ein nicht
festgestelltes Wesen, so ist der Übermensch ein unbeschriebenes
Blatt. Heidegger kommt uns zur Hilfe und will seinen Übermenschen
definieren: "Der Über-Mensch ist derjenige, der das Wesen
des bisherigen Menschen erst in seine Wahrheit überführt und
diese übernimmt. Der so in seinem Wesen fest-gestellte bisherige
Mensch soll dadurch in den Stand gebracht werden, künftig der
Herr der Erde zu sein, d. h. die Machtmöglichkeiten in einem
hohen Sinn zu verwalten, die dem künftigen Menschen aus dem Wesen
der technischen Umgestaltung der Erde und des menschlichen Tuns
zufallen."[7]
Der Mensch als Sinnträger
ist, wie Heidegger es bemerkt, der Hirte des Seins (der Herr der
Erde) und er haust in der Sprache. Der Hirte, der in der Sprache
haust, ist der Herrscher und Zentrum der Herde, die er führt.
Somit wird das Seiende zum Sein verpflichtet und Heideggers
Entwurf endet in einem Zwangsnormsystem.
Die Überwindung des Nihilismus
Ich halte den Realismus für
einen Irrtum. Nur Heftigkeit entgeht der armseligen Empfindung
solch realistischer Erfahrungen. Nur der Tod und das Verlangen
haben beklemmende, atemberaubende Kraft. Nur die Maßlosigkeit des
Verlangens und des Todes ermöglicht, die Wahrheit zu erreichen.
- Georges Bataille -
In der Kultivierung des
Geschlechts fand das Begehren seinen entfremdeten Höhepunkt. Die
Lust als Züchtung der Vernunft, aber auch der Religion, denen ein
abstrakter Gehalt innewohnt, erwies sich als universelles Defizit.
Der Antrieb des menschlichen Geschlechts, der in der Oralität,
Genitalität und Analität seinen lebhaften Ausdruck finden könnte,
geriet durch die Züchtung in eine neurotische Existenz. Das
Verlangen als Antrieb, als Wunsch, als Lust, Zuneigung, Zärtlichkeit,
als Bindung, Kommunikation, als Bedürfnis, Anteilnahme,
Ganzerlebnisse, als dauerhafte Befriedigung der Genitalität, der
Oralität und der Analität zeigte sich als Verkalkung des Leibes
und der Seele.
Ein Stirnersches Modell
als Katharsis löst den Menschen von seinen obengenannten
Defiziten, von seinen Verkalkungen und ermöglicht ihm zu seiner
Eigentlichkeit zu finden, in der die Lust des Leibes und die der
Seele hausen. Das Gebot zu gesellschaftlicher Praxis, zum
Miteinandersein ohne Überbewertung der Sexualität, ohne Unterdrückung
der Sexualität kann nur ein Zeichen von sexueller Kraft bedeuten,
die ein oral-genitales Defizit nicht zulässt.
Das siechende Geschlecht
lässt sich verführen von der Sexindustrie, die ihm sein Leben
vorgaukelt, ihm Putschmittel vorschreibt, um seine unterdrückten
Gefühle zu beleben, ihn scheinaufklärt. Alle Völker, die ihre
Regierungen als Heilmittel betrachten, leiden unter oral-genitalen
Defiziten. Es war in der Tat kein Scherz, auch wenn es manche zu
herzhaftem Lachen animiert, als Stirner fast die ganze Welt zu
Narren erklärte: "Denke nicht, dass Ich scherze oder
bildlich rede, wenn Ich die an Höheren hängenden Menschen, und
weil die ungeheure Mehrzahl hierher gehört, fast die ganze
Menschenwelt für veritable Narren, Narren im Tollhause
ansehe."[8]
Diese Völker scheinen
obszön. Ein Krieg zwischen Moslems und Juden ist nur ein Zeichen
ihrer gestörten Analität. Die Probleme dieser Völker sind nur
eine Auswirkung ihrer oral-genitalen Probleme. Diese Völker sind
obszön. Sie führen einen Krieg um den heiligen Mutterschoß,
worin sie endlich die Erlösung, die Endlösung finden werden: In
ihrer gegenseitigen Vernichtung. Das ist eine Hochzeit zwischen
Diesseits und Jenseits. Hier sei der Einzige zum Tanz geladen.
Das Kruzifix, das die Städte
Deutschlands schmückt, lehrt sexuelles Leiden, das Peinigen des
Geschlechts, lehrt Zwangspflicht und Gewalt an der Seele. Der
neurotische Charakter ist Folge der seelischen Gewalt.
Kindergärten heißen heute Herz-Jesu, eine Botschaft also,
das den kleinen Seelen ein geschlechtsloses Heim verspricht. Es
lehrt Abwendung vom eigenen Körper, Verschließung der Gefühle,
Entbehrung und Hilflosigkeit. "Das Christentum will Herr über
Raubtiere werden; sein Mittel ist, sie krank zu machen, - die Schwächung
ist das christliche Rezept zur Zähmung, zur Zivilisation"[9]
Ein katastrophales
Erziehungspaket, welches ohne fassbare, aber um so mehr verdeckte
und strukturierte, verinnerlichte Autorität stattfindet, zielt
auf das gehorsame Musterkind. Die lediglich vernunftorientierte
Erziehung ist an der Seele des Kindes nicht interessiert. Folglich
wird die Seele blockiert, wodurch der Verstand zum Stillstand
kommt. Sublimierung ist nicht nur eine Triebunterdrückung,
sondern zugleich eine Unterdrückung der Seele. Die Freiheit des
Geistes kann nur durch die Freiheit der Seele erlangt werden. Sind
aber diese Kinder einmal erwachsen, so sind sie sofort auf der
Suche nach Liebe, nach Zuneigung, nach oral-genitaler Fülle. Doch
fehlgeschlagen. Die Gesellschaft leidet an Verkalkung. Auf der
Suche nach geschwundener Mutterbindung findet das Kind viele
neurotisierte Ersatzbindungen, die im Rechtsstaat ihren
christlichdemokratischen Ausdruck finden. Das obszöne
Weihnachtsfest, in dem sich das neurotische Verhalten in
kollektiver Weise zur Schau stellt, ruft nach einer Erfüllung des
Leibes und der Seele. "Holder Knabe im lockigen Haar ...
Christ, der Retter ist da ... Stille Nacht, heilige Nacht.
Weihnachten ist das oral-analer Seligkeit. Krippe, Anbetung des
Kindes, Erwartung des kommenden Lebens. - Stall, Mist, Tiere,
Hirten, einfache, dreckige Menschen beieinander, denen sogar Könige
huldigen."[10]
Weihnachten - das ist
das pervertierte Ritual der christlichen Welt. Es steht im
krassesten Gegensatz zum Ritual, es hat keine Tiefe, es ist ohne
seelischen, geistigen Inhalt. Es ist ein deutliches Zeichen für
eine kranke Gesellschaft, in der das Ge-schlecht freiliegt, frei
von allen Bindungen, vermarktet und verpackt. Destruktivität und
Aggressivität einerseits, Scheinfülle und Scheinbefriedigung
andererseits beginnen das Leben des Menschen zu bestimmen. Das
Heideggersche Man geht als Sieger über sich selbst hinaus.
Die Überwindung des
Nihilismus als anthropologische Formel rückte den Menschen durch
verschiedene Kontingenzbewältigungspraktiken in die Nicht-Identität.
Das Seiende als Unfestgelegtes, nicht definiertes Wesen auf dem
Weg zu seiner Festlegung durch die Kultur, erlebte einen
permanenten Weltfremdheitsschock, einen Kontingenzschock, der ihn
in einen Daseinskollaps sein ließ. Die Weltoffenheit endete mit
Weltfremdheit, die hier als Ichfremdheit ausgedrückt werden muss.
Stirner, der im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Hammer
philosophiert, hat diese Ichfremdheit, diese Obsessionen, die aus
Leib-Seele Konflikt resultieren, mit dem Hammer ohne Poesie, ohne
Kunst, ja ohne Sprachfeinheiten (diese Fähigkeit gehörte seinem
Nachfolger Nietzsche, der von sich behauptete, er sei ein
Hammerphilosoph), diese Mauer in den Köpfen Stein für Stein
zerlegt, ohne poetisch-romantische Gepflogenheiten, sondern mit
einer kühnen, kalten, deutschen Sprache, die in Stirner seinen
rigorosen und vehementen Sprachanalytiker fand. Stirner kündigte
somit das Ende der Logik an. Der in die Welt hineingeworfene
Mensch hat nicht die Mission, den Menschen eine besondere Gattung
oder Bestimmung zuzuschreiben, so hämmerte Stirner auf die
kulturellen Defizite. Der Mensch ist nicht mehr oder nicht weniger
als ein Esel, ein Affe, eine Mücke, ein Hund, eine Tulpe, ein
Fisch, ein Baum. Alles Seiende ist kontingent, ohne besser oder
schlechter als das Andere zu sein. Jedes Seiende hat seine
Eigentlichkeit und Einzigkeit. Die kontingente Faktizität ist
zugleich eine Endlichkeit ohne anthropologisch-obsessive Ewigkeit,
die Stirner, mit seiner Art als Hammerphilosoph, ein Hirngespinst
nennt. Stirner lacht der Kontingenz-Überwindung ins Gesicht. Es
muss hingenommen werden, wie und was es ist. Das Seiende ist da
und ist so wie es ist. Es ist Mitwelt, es ist in der Welt. Der
Mensch hat Kultur, aber er ist nicht Eigentum der Kultur, so könnte
Stirners Formel lauten. Mensch ohne Welt ist weltfremd, ist
ichfremd. Das Stirnersche Ich ist nicht grundlos, ortlos, ziellos.
Das Kontingent-Seiende impliziert das Sein, aber auch die Möglichkeit
des Andersseins. Der Mensch ist das Empirisch-Faktische, das sich
mit der Welt identifiziert und daraus seine Energie praktiziert.
Die psychoanalytische Version der Stirnerschen Philosophie findet
in den folgenden Worten des Psychoanalytikers Wilhelm Reich, der
Stirner sehr schätzte, ihren Ausdruck:
"Die Lebenskräfte
regeln sich natürlicherweise selbst ohne Zwangspflicht oder
Zwangsmoral; beide sind sichere Anzeichen für vorhandene
anti-soziale Regungen. Die antisozialen Handlungen entstammen
sekundären, durch die Unterdrückung des natürlichen Lebens
entstandenen Trieben, die der natürlichen Sexualität
widersprechen."[11]
Was Reich im sexuellen
Kontext analysiert, gilt selbstverständlich oder erst recht für
das kulturelle Dasein im Allgemeinen. Durch die sog. Sublimierung
hat sich der Mensch an die Zwangsnormen der Gesellschaft
angepasst. Ein kollektiver Sublimierungsprozess mit Beteiligung
der demokratischen Herrschaftsordnung sorgte für eine Verteilung
der Autorität. Dadurch nahm das autoritäre Verhalten allmählich
eine verinnerlichte Form an, die sich als Neurose bzw. fixe Idee
entpuppte. Das Normensystem, das den Einzelnen Schritt für
Schritt in die Monotonie, ins Neurotische hineinrückte, war
Ursache der Ich-Defizite. Stirner hat begonnen, die Ich-Defizite
zu entsorgen, das Ich von seinen Missionen zu entfesseln.
Durch die Geworfenheit
des In-der-Welt-Seins erfährt der Mensch seine Weltfreiheit und
Welteigenheit. In der Weltfreiheit ist er in der Welt ohne Welt.
In der Welteigenheit ist er in der Welt mit Welt. Im ersten Fall
ist er lediglich Hirte des Seins, im zweiten Fall erlebt er seine
vergängliche Existenz.
Der Entwurf in der Geworfenheit
In der Geworfenheit ist
der Mensch nicht fest-gelegt. Es gibt also keine Pflicht zum etwas
bestimmten Sein. Stellt man jedoch die Frage nach den Sinn des
Seins, so befindet man sich unmittelbar in der Theologie. Auch die
Philosophie steckt in diesem theologischen Moralismus fest. Auch
sie kann der Kontingenz nicht ins Gesicht schauen. Sie kann, wie
die Theologie, sich nicht damit abfinden, dass das Sein nichts als
da und für nichts da ist. Es ist da ohne wenn und aber. Das ist
die ungeschminkte Wahrheit.
Die
theologisch-philosophische Formel aber lautet: Wenn das Seiende
sein kann, so hat es die Pflicht zu sein. Jetzt wird es
deutlicher, warum Stirner die Atheisten als fromme Menschen
bezeichnete. Der Atheist verbirgt sein Frommsein in der Frage nach
dem Sinn. Spätestens an diesem Punkt kreuzen sich die Wege der
Theologie und Philosophie. Die herkömmliche Metaphysik ist ohne
diesen Sinnbegriff nicht denkbar und schon gar nicht die
philosophische Anthropologie. "Offen-sichtlich war der Sinn
von Sinn, da man nach der Rolle des Menschen im Kosmos, nicht
dagegen nach dem der Mücke fragte, anthropologisch eingeengt.
Geistesgeschichtlich ist dieser Anthropozentrismus allerdings
leicht erklärbar, nämlich durch Rückverweisung auf die auch
heute noch lebendige Anthropologie des Alten Testaments, die den
Menschen nicht nur als Herrscher über alles heraushob, sondern
auch als dasjenige Wesen, für das alle anderen Wesen geschaffen
worden sind, und das dadurch auch deren "Sinn" ist. Wenn
man dieses Sinn-Monopol statt mit den Augen des
Geisteswissenschaftlers mit denen des Naturwissenschaftlers, z. B.
eines Darwinisten, ansieht, dann wirkt es freilich einfach albern.
Ernsthaft kann doch niemand glauben, daß etwas so Fundamentales
wie "Sinn" gewissermaßen als kontingentes Attribut
ausgerechnet und ausschließlich derjenigen unter den Millionen
Spezies, der man zufällig selbst zugehört, zukommen soll."[12]
Die pädagogisch-philosophische
Kontingenzbewältigunspraxis, wie wir sie oben dargestellt haben,
ist am Seienden als solchem nicht interessiert, ihr Interesse gilt
dem Sinn des Seienden. Sie kann das Seiende, welches ohne
Eintrittskarte in die Welt eintritt, nicht wahrhaben. Ihrer
Meinung nach muss das Seiende die Eintrittskarte erst bezahlen und
zwar mit dem Sinn, wobei der Sinn mit Fremdbestimmung vollzogen
wird. Der Schock des zufälligen Daseins erinnert uns an den
russischen Nihilistenschock des 19. Jahrhunderts. Die Begegnung
der russischen Menschen mit dem Westen bzw. mit der westlichen
Na-tur- und Geisteswissenschaft war sein erster Schock. Anschließend
standen sie der Gottlosigkeit gegenüber. Das war ihr zweiter
Schock, der erst in der Oktoberrevolution eine in der Zwangsjacke
steckenden vorübergehende "Ruhe" fand. Die meisten
russischen Schriftsteller dieser Epoche erlebten eine intensive
innere Krise, die aus dem Versuch der Überwindung des
Christentums und Verwirklichung des Atheismus resultiert. Das war
die Zeit, aus der auch eine hervorragende, brillante geistige und
seelische Energie heraussprudelte, die an die Grenze des Daseins
stieß. Der enttäuschte russische Intellektuelle wollte in
Anbetracht des getöteten Gottes, der entwerteten Welt auf das
Ganze gehen. Doch er ahnte nicht: Wer anderen eine Falle stellt, läuft
selbst hinein. Die Sinnlosigkeit des Daseins ohne Gott und Götter
fand ihren Ausdruck in der Vernichtung, die geistig legitim war.
Seelisch aber war sie nicht erträglich. Hier geriet der russische
Intellektuelle im wahrsten Sinne des Wortes in die Sackgasse, in
der er heute noch steckt. Das ist sein dritter Schock.
Stirner, der unmittelbar
diesem "zweiten" Schock, unter dem die russische Seele
so litt, gegenüberstand, hat für die Eintrittskarte nichts
bezahlt. Um Geist und Seele nicht miteinander zu verfeinden,
stellte er seine Sache auf Nichts. Damit hatte er den Kern des
Daseins getroffen und die Philosophie mit der menschlichen Psyche
verbunden, die wir schon im Gilgamesch-Epos lesen können:
Als Gilgamesch den Tod
seines Freundes Enkidu erlebte, begegnete er zum ersten Mal dem
Nichts. Er schaute ihm ins Gesicht und fiel in den Abgrund des
Seins; einen Abgrund, in dem der Mensch zum Freisein verurteilt
war. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, dass er in die
Weltkontingenz hineingeworfen
worden war. Denn zum ersten Mal verstand der Mensch, dass er ohne
Götter leben muss. Er verlor die Angst vor den Göttern. Das
bedeutete Freiheit, was so viel heißt wie Tragik des Lebens. Aber
auch: Genießen des Augenblicks, Freude am Dasein, an der Tätigkeit
des Körperlichen wie des Geistigen.
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