Die Uneigentlichkeit der Völker und der Einzige

Gedanken zur Psychoanalyse Max  Stirners

von H. Ibrahim Türkdogan 

Ritual und Neurose

Ich bin von dem drohenden Tod so sehr gezeichnet, dass der wirkliche Tod für mich seinen Schrecken verloren hat.   - Antonin Artaud -

 Erster Schritt

Ein Gesang besteht aus einer rhythmischen Struktur. Dieser sorgt für melodische Einheit. Diese Einheit kann in vielen Takten zum Ausdruck gebracht werden. Ein Tanz. Ein Gesang. Ein Gefühlsausdruck. Ein rhythmischer Akt wie ein Feuertanz in Begleitung von einem Gesang aus dem Kehlkopf drückt Gefühle und Gedanken aus. Was hier zunächst wie eine Struktur zu sein scheint, ist ein Chaos ohne Gedanken- und Gefühlsausbruch. Inneres Chaos ist eine äußere Struktur mit bestimmten Gedanken und Gefühlen. Ja, es ist ein Ritual im ursprünglichsten Sinn.  Halten wir das fest und stellen gleichzeitig folgende Frage: Was ist Kultur?

Zweiter Schritt

Der Mensch des Überlebens ist der Mensch der Angstlust, der Mensch des Unvollendeten, der Mensch der Verstümmelung.   - Raoul Vaneigem -

Ein Volk oder eine Gruppe, eine Gemeinschaft, die sich als Resultat einer perfekten Dressur* in der Gegenwart bewegt, versteht unter dem Kulturbegriff ästhetische, intellektuelle, juristische, sittlich-religiöse Gewohnheiten und die Organisierung der sozialpolitischen, wirtschaftlichen und militärischen Angelegenheiten. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft haben in der Regel einen nicht-rhythmischen, aber einen hoch monotonen Tagesablauf. Um in den Tag hineinzuleben, hat ein Mitglied eine Tagesgebrauchsanweisung nötig, die aus bestimmten Fakten besteht - nennen wir sie "für den Tag erforderliche Hauptbedürfnisse." Alle anderen sogenannten Bedürfnisse finden zwischen diesen Fakten statt, die in Kleinbedürfnis-Kategorien eingeteilt sind, falls man sie wahrzunehmen imstande ist. Für diese Art des Lebens ist ein Plan entworfen worden. Die Zeiteinteilung des modernen Menschen ist so wichtig wie sein Herzschlag. Doch beide funktionieren unabhängig voneinander.

Die Entstehung der Neurose

Anstatt "sich zu machen", scheint der Mensch "gemacht zu werden" durch das Klima und das Land, die Rasse und die Klasse, die Sprache, die Geschichte der Kollektivität, der er angehört, die Vererbung, die individuellen Umstände seiner Kindheit, die angenommenen Gewohnheiten, die großen und kleinen Ereignisse seines Lebens.  - Jean-Paul Sartre -

Mit dem Aufstieg der modernen Anthropologie in Deutschland gegen Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Bewußtsein der Menschen hierzulande für die nächsten Jahrzehnte bedeutend bestimmt. Das über sich selbst denkende Wesen, genannt Mensch, wollte Kultur von der Natur getrennt sehen. Aus dieser Perspektive kann man sagen: Je mehr eine Gesellschaft technisiert ist, desto mehr hat sich eine naturungebundene Lebensart entwickelt. Weniger rhythmische Existenz sorgte um so mehr für monotones Dasein.

Der philosophische Ausgangspunkt der Anthropologen lag zunächst einmal darin, den Menschen mit zwei weiteren Lebewesen, Pflanze und Tier, zu vergleichen. Max Scheler beispielsweise hat in seiner Stufentheorie gezeigt, dass zunächst einmal alle Lebewesen durch ihren, wie Scheler sagt, Gefühlsdrang miteinander verbunden sind. Schließlich werden Tier und Mensch von der Pflanze durch ihre Intelligenz und im Laufe der Stufenleiter endlich der Mensch von den beiden Lebewesen durch sein Geistwesen völlig getrennt. Als Geistwesen erfährt der Mensch, dass er der Natur entfremdet ist. Dass er die Natur unter seinen Füßen verliert. In diesem Gefühl des Nichtseins wählt er entweder das Dogma, das Christentum usw. oder den Geist, d. h. die Möglichkeit, ganz Mensch zu werden. Das ist der Beginn der Neurose einerseits und der Beginn eines geistigen Rituals andererseits.

Die Menschwerdung. Die Stellung des Menschen im Kosmos

Bevor wir Gedanken über diese Frage verschwenden, müssen wir einer anderen Frage nachgehen, die nicht weniger wichtig ist: welche Stellungen nehmen andere Lebewesen ein?

Woran kann man die sogenannte Sonderstellung des Menschen erkennen? Ist es die Tatsache, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, die Erde vom Mond aus zu betrachten oder dass er das erste Wesen ist, das in das biologische Wirkungsgefüge soweit eingegriffen hat, dass dieses droht nicht mehr zu funktionieren?

Dass der Mensch auf dieser Welt und sogar außerhalb ihrer Grenzen seine "sonderbare" Fähigkeit in die Tat umgesetzt hat, daran besteht keinen Zweifel. Und es besteht kein Zweifel, dass der Mensch imstande ist, mit Hilfe des Experimentierens mit Tieren seine eigene Stellung und die des Tieres im Rahmen der rationalistischen Wissenschaft zu charakterisieren; dennoch aber bleibt die Frage, ob diese Erkenntnisse auch wirklich zutreffen, da diesen Kriterien bestimmten Faktoren, wie zeitabhängigem Bewußtsein oder Ethik usw., zugrunde liegen. Und die andere Frage ist, was hat das Tier davon, sofern man es als Mitwesen auf dieser Welt anerkennt?

Würde der Mensch den Tieren die gleichen Rechte zuerkennen wie sich selbst, wie würde er mit ihnen umgehen?

Die moderne Pädagogik sieht einen wichtigen und positiven Charakter in der Entwicklung des Kindes durch seine Wahrnehmung des Tieres im sogenannten Tiergarten. Woran sollen sich die Kinder gewöhnen? An einem Genuß von Sadismus, Masochismus und dergleichen? An einem Gedanken des Triumphs?

Trotz der menschlichen Intelligenz, die dem Menschen in der Weltkontingenz zu eigen ist, Sprache, Kunst, Religion, kurz Kultur zu schaffen und Atomkraftwerke zu bauen oder mit unserer durch Sublimierung entstandenen Aggressivität und Destruktivität in kürzester Zeit alles zu vernichten, bleibt dennoch die Frage, ob das alles ein sinnvolles Ergebnis unserer verdrängten Triebe ist. Oder ist gar zu behaupten, der Mensch sei die Krönung der Schöpfung? Kann man hier von einem Triumph sprechen? Triumph über wen, über das Tier, die Welt oder über uns selbst, da wir imstande sind, uns selbst mit den modernsten Werkzeugen, die wir durch unsere Intelligenz erschafft haben, zu vernichten?

Verdrängte Triebe und die Kultur als zweite Sozialisation des Menschen

W. Reich empfiehlt, affektgesperrten und gleichzeitig muskulär-hypertonen Neurotikern zu Wutausbrüchen zu verhelfen. Dieser Typ der Neurose scheint mir heute besonders weit verbreitet zu sein: es handelt sich um die Krankheit des Überlebens. Das Überleben ist das auf die Gebote der Ökonomie reduzierte Leben. Das Überleben ist folglich heute das auf das Konsumierbare reduzierte Leben. - Raoul Vaneigem -

In den 1970er Jahren hat der Biologe Konrad Lorenz mit seinem Buch "Das sogenannte Böse" diesen Gedanken des Triumphs auf die Spitze getrieben. Der Nobelpreisträger Lorenz geht von der gleichen Logik aus, indem er das Tier untersucht und seine daraus gewonnenen Ergebnisse auf den Menschen überträgt. Dabei hat Lorenz die Tiere nicht in der Natur erforscht, sondern nur unter von Menschen für Tiere errichtete Einrichtungen (Zoo, Aquarium usw.). "Die Rückschlüsse aus seinen Forschungen auf den Menschen zieht er alle über eine einzige Person, die er nur auf einer halben Buchseite vorstellt. Anlass der Übertragung seiner Aquariumforschungen an Buntbarschen, Perlmutterfischen und Cichliden auf den Menschen ist für Lorenz eine angebliche Ähnlichkeit zwischen den Aggressionsverhältnissen bei Fischen und denen seiner Tante. Konrad Lorenz' Tante war ohne Zweifel in jenen Fremd- und Selbstschädigungsmechanismus verfangen, der das Böse kennzeichnet."[1]

Lorenz' Tante litt u. a. unter Zwangsneurosen. Erstens geht  Lorenz von einem falschen Ausgangspunkt aus, da er Tiere in Laboratorien untersucht: man kann von eingesperrten Tieren gewiss keine sichere Informationen über Natur des Tieres erreichen. Zweitens überträgt er seine falsche Informationen auf Menschen und zwar in diesem Fall auf einen neurotischen Menschen.

Wissenschaftliche Forschung ist erstens abhängig vom Zeitgeist und kann sich zweitens vollkommen irren. Ja muss sich sogar in diesem Kontext irren. Denn: alle Informationen, die der Mensch über das Tier gewinnt, sind lediglich seine, d. h. menschliche Informationen, aus der menschlichen Perspektive gewonnene Ergebnisse.

Ist diese sogenannte Sonderstellung nicht eher eine dem Menschen eigentümliche Überlebensstrategie und ein vernunftgebundenes Gefühl der Überheblichkeit? Wobei das Tier dem Menschen als Versuchsobjekt zur Verfügung steht, stehen muss.

Martin Heidegger ist von dieser Logik fasziniert, als ob die anthropologische Theorie ihm sehr gelegen kommt. Heidegger verdeutlicht diese Logik: "Durch die Vernunft erhebt sich der Mensch über das Tier, aber so, dass er ständig auf das Tier herabblicken, es unter sich bringen, mit ihm fertig werden muss." Was will Heidegger beweisen? Hat der Mensch einen Minderwertigkeitskomplex durch das "Tierische" in sich, weshalb er auf das Tier in sich herabblicken muss? Wie eine große Weisheit verkünden Heidegger und mit ihm auch viele Biologen, dass das Tier nicht "ich" sagen kann, dass es überhaupt nichts sagen kann.

Worum geht es eigentlich?

Die Menschen als das auserwählte Volk? Was ist die Sonderstellung des Esels im Kosmos? So könnte man die Frage auch stellen. Und das tat Günter Anders, um Schelers tragikomische philosophische Anthropologie zu parodieren. Hinter der Sonderstellung liegt die Sonderaufgabe, die besondere Mission. Durch sich seiend beauftragte Gott Adam und Eva mit Sonderaufgaben. Ihr Wesen wurde damit bestimmt. Waren die Menschen als Sondervolk auserwählt, so war der nächste Schritt nicht sehr weit. Nämlich ein bestimmtes Menschen-Volk war sondergestellt. Dieses haben manche Anthropologen (z. B.: A. Gehlen) ernsthaft behauptet.

Es ist wohl eine allgemein anerkannte "Tatsache", dass sich der Mensch von den Tieren unterscheidet, doch ein Affe unterscheidet sich, wenn auch nicht in gleicher Weise, aber doch erheblich von einer Katze und diese von einem Fisch. Und alle diese Arten besitzen Fähigkeiten, die die jeweils andere Art nicht besitzt. 

Wo ist also da die Krönung?

Ist dieser Gedanke eine Art Besessenheit, eine fixe Idee?

Ist der Mensch im Besitz einer Welt durch seine Weltoffenheit bzw. durch seine Weltenthobenheit, wo und was ist das Kriterium?

Im Westen ist alles aus dem Triumph des formalen Verstandes hervorgegangen.

Ja, wir sind Tiere; wir leben von Tieren, und Tiere leben von uns. Und wenn wir uns liebend vereinigen, so tun wir es nach den wahren Worten der Theologen more bestiarum. Die Liebe selbst ist von Grund aus tierisch: und gerade darin liegt ihre tiefe Schönheit. - Rémy de Gourmont

Ist es ein Zufall, dass der Mensch anstatt Lebenserhaltungs- und -verbesserungswerke zu vollbringen, Waffenarsenale erschaffen hat, um sich endgültig zu vernichten? Der Triumphgedanke hängt mit dieser "Vernichtungslust" zusammen. Im Angesicht der Weltkrise spielt dieser Gedanke eine erheblich große Rolle.

Sartre, für den der Mensch zum freisein verurteilt ist, sieht den Menschen ebenfalls wie manche Anthropologen ursprünglich im Nichts. Er hat gewiss einiges mit den Anthropologen gemein. Auch Sartre begreift den Menschen zunächst als einen Entwurf, aus dem er sich dann zu dem machen wird, zu dem er sich machen kann. Sartres Philosophie liegt aber nicht einer Anthropologie zugrunde. Wahrscheinlich deshalb triumphiert Sartre nicht über die Welt. Die Gottwerdung, von der manche Anthropologen sprechen, setzt die Weltwerdung voraus. Damit dürfte der Mensch nicht Welthaben im Sinne der Anthropologen, sondern Weltsein. Weltenthobensein kann Weltentfremdung zur Folge haben, was den Menschen, psychoanalytisch betrachtet, zerstören kann. Welthaben und Weltsein müssen aber nicht als Gegensätze verstanden werden.

Hier liegt Stirners Ansatz.

Das ganze Gebäude der zweitausendjährigen abendländischen Denkart (namentlich: Judentum, Christentum, Islam) einschließlich die moderne Anthropologie wird von Stirner aufgegriffen und Stein für Stein zerrüttelt, um aus den Trümmern der Monotonien, der falschen Gewohnheiten einen wahren, d. h. ursprünglichen Rhythmus der Existenz, des Herzschlags entstehen zu lassen. Was Freud und mit ihm die Anthropologen Sublimierung nannten, nannte Stirner Fremdbestimmung. Was die Psychoanalytiker Neurose nannten, nannte er fixe Idee. Welthaben und Weltsein setzt nach Stirner nicht voraus, sich zu entfremden. Im Gegenteil: "Wenn der Mensch, so wie ihn der Existentialist begreift, nicht definierbar ist, so darum, weil er anfangs überhaupt nichts ist. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird."[2]

Die Menschwerdung im Sinne von Stirner lässt Fremdbestimmung nicht zu, fördert Selbstbestimmung und Kreativität. Die moderne Pädagogik hindert das Kind immer noch an seiner selbstbestimmten, kreativen Entfaltung, sie schreibt ihm immer noch vor, ja diktiert ihm, wie es zu einem gutchristlichen Bürger wird. Ihr Diktat geschieht heute sehr geschickt, nicht direkt, sondern verdeckt. Überall lauern Neurosen in der Pädagogik, überall fixe Ideen, beispiellos. Das Herz Jesu hält seine Kinder immer noch fest. Seine Kinder, Adam und Eva, schwören ihm Gefolgschaft. Kein Wunder, daß ein gewisser Konrad Lorenz zu einem Nobelpreisträger und Stirner zum Spott der Akademiker wird. Jedes Handeln zur Förderung der staatlichen Vollmacht wird von Staatsbevollmächtigten gekrönt, gefördert.

Dem zufälligen Sosein des Tieres setzt der Mensch sein Dasein entgegen. Mit einem Nein durchbricht er sein Jetzt-Hier-So-Sein, mit dem Ziel, die Wirklichkeit zu transzendieren. Durch die Triebverdrängung, durch die Unterdrückung der Triebimpulse, durch das Verzichten auf diese Energie wollte der Mensch eine neue Energie entstehen lassen, die er zu geistiger, sprachlicher, intellektueller kurz kultureller Aktivität zu sublimieren beabsichtigte.

Zwei Theorien können wir in der Geschichte des abendländischen Menschen betrachten, die, wenn sie auch so gegensätzlich zu sein scheinen, den gleichen Kultur-Menschen hervorgebracht haben. Die erste Theorie, genannt Klassische Theorie (einige Vertreter seien hier genannt: Averroes, Spinoza, Kant, Hegel,  usw.), die dem Geist Autonomie und Macht zuspricht, basiert auf einem geistigen und allmächtigen Gott, der durch seinen Geist der allmächtige Gott ist. Die zweite Theorie, genannt Negative Theorie (Schopenhauer, Paul Alsberg und S. Freud usw.) vertritt die Meinung, daß alle kulturerzeugenden Tätigkeiten des Menschen nur durch jenes Nein erst erstehen. Das Ergebnis beider Theorien ist ein neurotisches Produkt, genannt Mensch.

Max Scheler hat die Sublimierung in ihrer höchsten Form definiert. Ihm zufolge findet Sublimierung in jedem Vorgang statt, indem Kräfte einer niedrigeren Sphäre des Seins im Werdeprozess der Welt in den Dienst höherer Gestaltungen gestellt werden, wie beispielsweise die Elektronen in den Dienst der Atomgestalt und die anorganischen Kräfte in den Dienst der Lebensstruktur. Seine kosmische Schilderung der Sublimierung bringt Scheler dann anschließend auf den letzten Punkt: "Die Menschwerdung und die Geistwerdung müsste dann als der bislang letzte Sublimierungsvorgang der Natur angesehen werden."[3]  

Was der Affe für den Menschen ist, ist der Mensch für den Übermenschen. Für den vollkommen geistgewordenen Menschen ist der Übermensch immer noch ein Affe. Anders formuliert: Der überwundene Affe will den Menschen als Schmach und Scham überwinden und führt zum Übermenschen, welcher den Weg der Geistwerdung bzw. der Gottwerdung geschlagen hat. "Was ist der Affe für den Menschen?" fragt Nietzsche und seine Antwort: "Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und eben das soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham."[4] Der Mensch ist lediglich ein Mittel zur Erreichung des Übermenschen (Nietzsche), welcher ein Mittel zur Erreichung des Gottmenschen (Scheler) ist. Das ‚Projekt Gottwerdung des Menschen' findet seinen End-Wurf durch den Untergang des Menschen und des Übermenschen im Gottmenschen.   

Es ist Zeit den Affen sprechen zu lassen!  

Nach Scheler gibt es keine göttliche Instanz, die den Menschen zur Krone der Schöpfung erhöhen kann, also bleibt nur noch die Macht, sich selbst zu erhöhen. Nur welchen Sinn soll das haben? Herabblickend auf Tiere und Pflanzen, um über sie zu triumphieren, ergibt keinen Sinn. Der Mensch hat auch die Macht (Möglichkeit), das Tier als Mitwesen anzuerkennen. Wäre das eine Akt gegen die Kultur? Das wäre auf jeden Fall die Umkehrung der Perspektive. Eine Gegenkultur?  

Zurück zum ersten Schritt

Es ist wahr, dass die Höflichkeit (und die Zeremonie insgesamt) nicht mehr das ist, was sie einmal war. Aber weil wir ihr einen Sinn verleihen wollen, wird sie bei uns zur Heuchelei. - Jean Baudrillard -

Es ist Zeit den Affen sprechen zu lassen!

Franz Kafka hat einen anderen, einen entgegengesetzten Weg geschlagen als die Trium-phierenden. In seiner Schrift "Ein Bericht für eine Akademie" versucht er das Problem des Tierseins unter der Herrschaft des Menschen aus der umgekehrten Perspektive zu beschreiben. Aus der Perspektive eines Affen, wobei die Perspektive eines Affen vom Menschen niemals verstanden werden kann, versucht Kafka das Drama eines lebendigen Wesens als Knecht in der menschlichen Gesellschaft zu deuten, um anschließend auf die Folgen der unterdrückten Triebe hinzuweisen. Dabei verwendet er bewusst die entgegen-gesetzte Perspektive der Biologen und Anthropologen. 

Der Affe, genannt Rotpeter, wird von einer Akademie aufgefordert, über sein äffisches Vorleben zu berichten: "Als ich in Hamburg dem ersten Dresseur übergeben wurde, erkannte ich bald die zwei Möglichkeiten, die mir offenstanden: Zoologischer Garten oder Varieté. Ich zögerte nicht. Ich sagte mir: setze alle Kraft an, um ins Varieté zu kommen; das ist der Ausweg; Zoologischer Garten ist nur ein neuer Gitterkäfig; kommst du in ihn, bist du verloren. (...) Es gibt eine ausgezeichnete deutsche Redensart: sich in die Büsche schlagen; das habe ich getan, ich habe mich in die Büsche geschlagen. Ich hatte keinen anderen Weg, immer vorausgesetzt, dass nicht die Freiheit zu wählen war."[5]  Rotpeter sieht in der  Gefangenschaft nur die eine Möglichkeit, den Menschen nachzuahmen, um zu überleben. Mit dem Verzicht auf sein äffisches Leben, durch seine Triebunterdrückung, versucht er Mensch zu werden. Rotpeter kleidet sich wie ein Mensch, wohnt bei den Menschen, er ist gesellschaftlich etabliert, ist ein berühmter Künstler, kurz, er führt ein spießbürgerliches Leben. Er hat die Durchschnittsbildung eines Europäers erreicht. Erreicht hat er dadurch auch, aus dem Käfig raus zu kommen. Rotpeter ist ein in die menschliche Gesellschaft integrierter, assimilierter Affe, der sein Affentum überwunden hat.

Unter dem Einfluss der Darwinschen Evolutionstheorie vertraten damals viele Tierpsychologen die Meinung, durch Nachahmung, Dressur die Evolution der Tiere beschleunigen zu können. Statt auf eine zufällige Entwicklung zu warten, wollte man die Tiere innerhalb einer Generation auf die Entwicklungsstufe des Menschen bringen.

Kafkas Erzählung spiegelt die menschliche Entwicklung wieder. Das nichtfertige Wesen Mensch zielte auf die volle Menschwerdung durch die Triebunterdrückung. Die erweiterte Freudsche Psychoanalyse sah in der Sublimierung eine Möglichkeit, die Zivilisationsentwicklung fortzutreiben, deren Fortentwicklung wir heute in der Gentechnik beobachten können. 

Was dem Affen Rotpeter widerfahren ist, sollte Ziel des Menschen sein, der noch im Affenfell ein denkendes Wesen ist. Der Mensch im Werden begreift sein gegenwärtiges Sein nicht, sowenig er das Sein des Tieres versteht. Das Rätsel seines Seins will er durch das Enträtseln des Tieres, indem er das Tier zur Kopie seines undefinierbaren Charakter erzieht, begreifen. Das ist die erste Voraussetzung zur Gottwerdung. Die zweite ist die Vernichtung des Menschen. Heidegger weiß das positiv auszudrücken: "Um das Wesen des bisherigen Menschen allererst feststellen zu können, muß der bisherige Mensch über sich hinausgebracht werden. Der bisherige Mensch ist sofern der letzte Mensch, als er es nicht vermag, und das heißt, es nicht will, sich unter sich zu bringen und das Verächtliche seiner bisherigen Art zu verachten. Darum muß für den bisherigen Menschen der Übergang über sich selbst hinaus gesucht, darum muß die Brücke gefunden werden zu dem Wesen, als welches der bisherige Mensch der Überwinder seines bisherigen und letzten sein kann."[6]

War der Mensch ein nicht festgestelltes Wesen, so ist der Übermensch ein unbeschriebenes Blatt. Heidegger kommt uns zur Hilfe und will seinen Übermenschen definieren: "Der Über-Mensch ist derjenige, der das Wesen des bisherigen Menschen erst in seine Wahrheit überführt und diese übernimmt. Der so in seinem Wesen fest-gestellte bisherige Mensch soll dadurch in den Stand gebracht werden, künftig der Herr der Erde zu sein, d. h. die Machtmöglichkeiten in einem hohen Sinn zu verwalten, die dem künftigen Menschen aus dem Wesen der technischen Umgestaltung der Erde und des menschlichen Tuns zufallen."[7]

Der Mensch als Sinnträger ist, wie Heidegger es bemerkt, der Hirte des Seins (der Herr der Erde) und er haust in der Sprache. Der Hirte, der in der Sprache haust, ist der Herrscher und Zentrum der Herde, die er führt. Somit wird das Seiende zum Sein verpflichtet und Heideggers Entwurf endet in einem Zwangsnormsystem.

Die Überwindung des Nihilismus

Ich halte den Realismus für einen Irrtum. Nur Heftigkeit entgeht der armseligen Empfindung solch realistischer Erfahrungen. Nur der Tod und das Verlangen haben beklemmende, atemberaubende Kraft. Nur die Maßlosigkeit des Verlangens und des Todes ermöglicht, die Wahrheit zu erreichen.  - Georges Bataille -

In der Kultivierung des Geschlechts fand das Begehren seinen entfremdeten Höhepunkt. Die Lust als Züchtung der Vernunft, aber auch der Religion, denen ein abstrakter Gehalt innewohnt, erwies sich als universelles Defizit. Der Antrieb des menschlichen Geschlechts, der in der Oralität, Genitalität und Analität seinen lebhaften Ausdruck finden könnte, geriet durch die Züchtung in eine neurotische Existenz. Das Verlangen als Antrieb, als Wunsch, als Lust, Zuneigung, Zärtlichkeit, als Bindung, Kommunikation, als Bedürfnis, Anteilnahme, Ganzerlebnisse, als dauerhafte Befriedigung der Genitalität, der Oralität und der Analität zeigte sich als Verkalkung des Leibes und der Seele.

Ein Stirnersches Modell als Katharsis löst den Menschen von seinen obengenannten Defiziten, von seinen Verkalkungen und ermöglicht ihm zu seiner Eigentlichkeit zu finden, in der die Lust des Leibes und die der Seele hausen. Das Gebot zu gesellschaftlicher Praxis, zum Miteinandersein ohne Überbewertung der Sexualität, ohne Unterdrückung der Sexualität kann nur ein Zeichen von sexueller Kraft bedeuten, die ein oral-genitales Defizit nicht zulässt.  

Das siechende Geschlecht lässt sich verführen von der Sexindustrie, die ihm sein Leben vorgaukelt, ihm Putschmittel vorschreibt, um seine unterdrückten Gefühle zu beleben, ihn scheinaufklärt. Alle Völker, die ihre Regierungen als Heilmittel betrachten, leiden unter oral-genitalen Defiziten. Es war in der Tat kein Scherz, auch wenn es manche zu herzhaftem Lachen animiert, als Stirner fast die ganze Welt zu Narren erklärte: "Denke nicht, dass Ich scherze oder bildlich rede, wenn Ich die an Höheren hängenden Menschen, und weil die ungeheure Mehrzahl hierher gehört, fast die ganze Menschenwelt für veritable Narren, Narren im Tollhause ansehe."[8]

Diese Völker scheinen obszön. Ein Krieg zwischen Moslems und Juden ist nur ein Zeichen ihrer gestörten Analität. Die Probleme dieser Völker sind nur eine Auswirkung ihrer oral-genitalen Probleme. Diese Völker sind obszön. Sie führen einen Krieg um den heiligen Mutterschoß, worin sie endlich die Erlösung, die Endlösung finden werden: In ihrer gegenseitigen Vernichtung. Das ist eine Hochzeit zwischen Diesseits und Jenseits. Hier sei der Einzige zum Tanz geladen.

Das Kruzifix, das die Städte Deutschlands schmückt, lehrt sexuelles Leiden, das Peinigen des Geschlechts, lehrt Zwangspflicht und Gewalt an der Seele. Der neurotische Charakter ist Folge der seelischen Gewalt.  Kindergärten heißen heute Herz-Jesu, eine Botschaft also, das den kleinen Seelen ein geschlechtsloses Heim verspricht. Es lehrt Abwendung vom eigenen Körper, Verschließung der Gefühle, Entbehrung und Hilflosigkeit. "Das Christentum will Herr über Raubtiere werden; sein Mittel ist, sie krank zu machen, - die Schwächung ist das christliche Rezept zur Zähmung, zur Zivilisation"[9]

Ein katastrophales Erziehungspaket, welches ohne fassbare, aber um so mehr verdeckte und strukturierte, verinnerlichte Autorität stattfindet, zielt auf das gehorsame Musterkind. Die lediglich vernunftorientierte Erziehung ist an der Seele des Kindes nicht interessiert. Folglich wird die Seele blockiert, wodurch der Verstand zum Stillstand kommt. Sublimierung ist nicht nur eine Triebunterdrückung, sondern zugleich eine Unterdrückung der Seele. Die Freiheit des Geistes kann nur durch die Freiheit der Seele erlangt werden. Sind aber diese Kinder einmal erwachsen, so sind sie sofort auf der Suche nach Liebe, nach Zuneigung, nach oral-genitaler Fülle. Doch fehlgeschlagen. Die Gesellschaft leidet an Verkalkung. Auf der Suche nach geschwundener Mutterbindung findet das Kind viele neurotisierte Ersatzbindungen, die im Rechtsstaat ihren christlichdemokratischen Ausdruck finden. Das obszöne Weihnachtsfest, in dem sich das neurotische Verhalten in kollektiver Weise zur Schau stellt, ruft nach einer Erfüllung des Leibes und der Seele. "Holder Knabe im lockigen Haar ... Christ, der Retter ist da ... Stille Nacht, heilige Nacht. Weihnachten ist das oral-analer Seligkeit. Krippe, Anbetung des Kindes, Erwartung des kommenden Lebens. - Stall, Mist, Tiere, Hirten, einfache, dreckige Menschen beieinander, denen sogar Könige huldigen."[10]

Weihnachten - das ist das pervertierte Ritual der christlichen Welt. Es steht im krassesten Gegensatz zum Ritual, es hat keine Tiefe, es ist ohne seelischen, geistigen Inhalt. Es ist ein deutliches Zeichen für eine kranke Gesellschaft, in der das Ge-schlecht freiliegt, frei von allen Bindungen, vermarktet und verpackt. Destruktivität und Aggressivität einerseits, Scheinfülle und Scheinbefriedigung andererseits beginnen das Leben des Menschen zu bestimmen. Das Heideggersche Man geht als Sieger über sich selbst hinaus.

Die Überwindung des Nihilismus als anthropologische Formel rückte den Menschen durch verschiedene Kontingenzbewältigungspraktiken in die Nicht-Identität. Das Seiende als Unfestgelegtes, nicht definiertes Wesen auf dem Weg zu seiner Festlegung durch die Kultur, erlebte einen permanenten Weltfremdheitsschock, einen Kontingenzschock, der ihn in einen Daseinskollaps sein ließ. Die Weltoffenheit endete mit Weltfremdheit, die hier als Ichfremdheit ausgedrückt werden muss. Stirner, der im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Hammer philosophiert, hat diese Ichfremdheit, diese Obsessionen, die aus Leib-Seele Konflikt resultieren, mit dem Hammer ohne Poesie, ohne Kunst, ja ohne Sprachfeinheiten (diese Fähigkeit gehörte seinem Nachfolger Nietzsche, der von sich behauptete, er sei ein Hammerphilosoph), diese Mauer in den Köpfen Stein für Stein zerlegt, ohne poetisch-romantische Gepflogenheiten, sondern mit einer kühnen, kalten, deutschen Sprache, die in Stirner seinen rigorosen und vehementen Sprachanalytiker fand. Stirner kündigte somit das Ende der Logik an. Der in die Welt hineingeworfene Mensch hat nicht die Mission, den Menschen eine besondere Gattung oder Bestimmung zuzuschreiben, so hämmerte Stirner auf die kulturellen Defizite. Der Mensch ist nicht mehr oder nicht weniger als ein Esel, ein Affe, eine Mücke, ein Hund, eine Tulpe, ein Fisch, ein Baum. Alles Seiende ist kontingent, ohne besser oder schlechter als das Andere zu sein. Jedes Seiende hat seine Eigentlichkeit und Einzigkeit. Die kontingente Faktizität ist zugleich eine Endlichkeit ohne anthropologisch-obsessive Ewigkeit, die Stirner, mit seiner Art als Hammerphilosoph, ein Hirngespinst nennt. Stirner lacht der Kontingenz-Überwindung ins Gesicht. Es muss hingenommen werden, wie und was es ist. Das Seiende ist da und ist so wie es ist. Es ist Mitwelt, es ist in der Welt. Der Mensch hat Kultur, aber er ist nicht Eigentum der Kultur, so könnte Stirners Formel lauten. Mensch ohne Welt ist weltfremd, ist ichfremd. Das Stirnersche Ich ist nicht grundlos, ortlos, ziellos. Das Kontingent-Seiende impliziert das Sein, aber auch die Möglichkeit des Andersseins. Der Mensch ist das Empirisch-Faktische, das sich mit der Welt identifiziert und daraus seine Energie praktiziert. Die psychoanalytische Version der Stirnerschen Philosophie findet in den folgenden Worten des Psychoanalytikers Wilhelm Reich, der Stirner sehr schätzte, ihren Ausdruck:

"Die Lebenskräfte regeln sich natürlicherweise selbst ohne Zwangspflicht oder Zwangsmoral; beide sind sichere Anzeichen für vorhandene anti-soziale Regungen. Die antisozialen Handlungen entstammen sekundären, durch die Unterdrückung des natürlichen Lebens entstandenen Trieben, die der natürlichen Sexualität widersprechen."[11] 

Was Reich im sexuellen Kontext analysiert, gilt selbstverständlich oder erst recht für das kulturelle Dasein im Allgemeinen. Durch die sog. Sublimierung hat sich der Mensch an die Zwangsnormen der Gesellschaft angepasst. Ein kollektiver Sublimierungsprozess mit Beteiligung der demokratischen Herrschaftsordnung sorgte für eine Verteilung der Autorität. Dadurch nahm das autoritäre Verhalten allmählich eine verinnerlichte Form an, die sich als Neurose bzw. fixe Idee entpuppte. Das Normensystem, das den Einzelnen Schritt für Schritt in die Monotonie, ins Neurotische hineinrückte, war Ursache der Ich-Defizite. Stirner hat begonnen, die Ich-Defizite zu entsorgen, das Ich von seinen Missionen zu entfesseln.

Durch die Geworfenheit des In-der-Welt-Seins erfährt der Mensch seine Weltfreiheit und Welteigenheit. In der Weltfreiheit ist er in der Welt ohne Welt. In der Welteigenheit ist er in der Welt mit Welt. Im ersten Fall ist er lediglich Hirte des Seins, im zweiten Fall erlebt er seine vergängliche Existenz.

Der Entwurf in der Geworfenheit

In der Geworfenheit ist der Mensch nicht fest-gelegt. Es gibt also keine Pflicht zum etwas bestimmten Sein. Stellt man jedoch die Frage nach den Sinn des Seins, so befindet man sich unmittelbar in der Theologie. Auch die Philosophie steckt in diesem theologischen Moralismus fest. Auch sie kann der Kontingenz nicht ins Gesicht schauen. Sie kann, wie die Theologie, sich nicht damit abfinden, dass das Sein nichts als da und für nichts da ist. Es ist da ohne wenn und aber. Das ist die ungeschminkte Wahrheit.

Die theologisch-philosophische Formel aber lautet: Wenn das Seiende sein kann, so hat es die Pflicht zu sein. Jetzt wird es deutlicher, warum Stirner die Atheisten als fromme Menschen bezeichnete. Der Atheist verbirgt sein Frommsein in der Frage nach dem Sinn. Spätestens an diesem Punkt kreuzen sich die Wege der Theologie und Philosophie. Die herkömmliche Metaphysik ist ohne diesen Sinnbegriff nicht denkbar und schon gar nicht die philosophische Anthropologie. "Offen-sichtlich war der Sinn von Sinn, da man nach der Rolle des Menschen im Kosmos, nicht dagegen nach dem der Mücke fragte, anthropologisch eingeengt. Geistesgeschichtlich ist dieser Anthropozentrismus allerdings leicht erklärbar, nämlich durch Rückverweisung auf die auch heute noch lebendige Anthropologie des Alten Testaments, die den Menschen nicht nur als Herrscher über alles heraushob, sondern auch als dasjenige Wesen, für das alle anderen Wesen geschaffen worden sind, und das dadurch auch deren "Sinn" ist. Wenn man dieses Sinn-Monopol statt mit den Augen des Geisteswissenschaftlers mit denen des Naturwissenschaftlers, z. B. eines Darwinisten, ansieht, dann wirkt es freilich einfach albern. Ernsthaft kann doch niemand glauben, daß etwas so Fundamentales wie "Sinn" gewissermaßen als kontingentes Attribut ausgerechnet und ausschließlich derjenigen unter den Millionen Spezies, der man zufällig selbst zugehört, zukommen soll."[12]

Die pädagogisch-philosophische Kontingenzbewältigunspraxis, wie wir sie oben dargestellt haben, ist am Seienden als solchem nicht interessiert, ihr Interesse gilt dem Sinn des Seienden. Sie kann das Seiende, welches ohne Eintrittskarte in die Welt eintritt, nicht wahrhaben. Ihrer Meinung nach muss das Seiende die Eintrittskarte erst bezahlen und zwar mit dem Sinn, wobei der Sinn mit Fremdbestimmung vollzogen wird. Der Schock des zufälligen Daseins erinnert uns an den russischen Nihilistenschock des 19. Jahrhunderts. Die Begegnung der russischen Menschen mit dem Westen bzw. mit der westlichen Na-tur- und Geisteswissenschaft war sein erster Schock. Anschließend standen sie der Gottlosigkeit gegenüber. Das war ihr zweiter Schock, der erst in der Oktoberrevolution eine in der Zwangsjacke steckenden vorübergehende "Ruhe" fand. Die meisten russischen Schriftsteller dieser Epoche erlebten eine intensive innere Krise, die aus dem Versuch der Überwindung des Christentums und Verwirklichung des Atheismus resultiert. Das war die Zeit, aus der auch eine hervorragende, brillante geistige und seelische Energie heraussprudelte, die an die Grenze des Daseins stieß. Der enttäuschte russische Intellektuelle wollte in Anbetracht des getöteten Gottes, der entwerteten Welt auf das Ganze gehen. Doch er ahnte nicht: Wer anderen eine Falle stellt, läuft selbst hinein. Die Sinnlosigkeit des Daseins ohne Gott und Götter fand ihren Ausdruck in der Vernichtung, die geistig legitim war. Seelisch aber war sie nicht erträglich. Hier geriet der russische Intellektuelle im wahrsten Sinne des Wortes in die Sackgasse, in der er heute noch steckt. Das ist sein dritter Schock.

Stirner, der unmittelbar diesem "zweiten" Schock, unter dem die russische Seele so litt, gegenüberstand, hat für die Eintrittskarte nichts bezahlt. Um Geist und Seele nicht miteinander zu verfeinden, stellte er seine Sache auf Nichts. Damit hatte er den Kern des Daseins getroffen und die Philosophie mit der menschlichen Psyche verbunden, die wir schon im Gilgamesch-Epos lesen können:  

Als Gilgamesch den Tod seines Freundes Enkidu erlebte, begegnete er zum ersten Mal dem Nichts. Er schaute ihm ins Gesicht und fiel in den Abgrund des Seins; einen Abgrund, in dem der Mensch zum Freisein verurteilt war. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, dass er in die Weltkontingenz  hineingeworfen worden war. Denn zum ersten Mal verstand der Mensch, dass er ohne Götter leben muss. Er verlor die Angst vor den Göttern. Das bedeutete Freiheit, was so viel heißt wie Tragik des Lebens. Aber auch: Genießen des Augenblicks, Freude am Dasein, an der Tätigkeit des Körperlichen wie des Geistigen.

 

 

Fußnoten

* Der Begriff „Dressur“ steht bei manchen Völkern für die Erziehung der Tiere, bei anderen Völkern für Erziehung der Menschen. Durchschaut man die Hinterhältigkeit und die List des Wortes, so wird man unmittelbar sehen, dass es sich bei allen patriarchalischen Völkern in beiden Fällen lediglich um Dressur handelt. Im Laufe des Textes wird man den Kern des Objektes erfassen.

[1] Volker Elis Pilgrim: Dressur des Bösen.  Verlag Kurt Desch, 1974,  S. 20.  

[2] Jean-Paul Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus. Ullstein, Juli 1989, S. 11.

[3] Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Francke Verlag Bern und München, 8. Auflage 1975,  S. 68.

[4] Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra.  Kröner Verlag Stuttgart. 18. Aufl. 1988, S. 8.

[5] Franz Kafka: Die Verwandlung. Und andere Erzählungen. Könemann. 1995. S. 229-230

[6] Martin Heidegger: Was heißt Denken? Reclam Verlag  Stuttgart 1992, S. 39.

[7] Ebenda S. 39.

[8] Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1981, S. 46.

[9] Friedrich Nietzsche: Der Antichrist. Kröner 1990, S. 213.

[10] V.E.Pilgrim/A. Mend: Das Paradies der Väter. Rowohlt 1987, S. 155.

[11] Wilhelm Reich, entnommen aus einem nicht weidergefundenen Ort.

[12] Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen Band 2, S. 383-384, 1980, Verlag C.H. Beck München .

Dieser Artikel erschien zuerst in: DER EINZIGE.  Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, August 2001. 

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