Auf den Spuren eines anarchistischen Mystikers

Gustav Landauer und seine exzentrische Beziehung zu Max Stirner

von H. Ibrahim Türkdogan

 

Jeder Mystiker ist für Anarchie empfänglich"

– Paul Valéry –

 

Gustav Landauer

Der Untertitel dieses Buches* von Joachim Willems hat mich veranlasst, diese interessante und eine in ihrer Art einmalige, umfangreiche Arbeit zu Gustav Landauers Person und Philosophie etwas näher zu betrachten. Das Buch enthält ein großes Spektrum an Informationen über Landauers Jugendzeit bis zu seinem Tod; der Autor bietet eine umfangreiche Analyse von Landauers sozialistischem Anarchismus und seiner religiösen Mystik. Zwischen diesen beiden Linien hat Landauer wohl seinen geistigen und seelischen Entwicklungsprozess erlebt. Joachim Willems versteht es, Landauers Gedankengänge angemessen zu beobachten und diese dementsprechend vorzustellen. Der Autor informiert nicht nur über die geschichtlichen Konstellationen vieler Theorien von verschiedenen Autoren, er untersucht auch historische Zusammenhänge religiöser und philosophischer Denker; er erhellt diese für lange Zeit im Dunkeln gebliebenen Zusammenhänge. Wir erfahren darin nicht nur über den „Sozialisten" und den „Anarchisten" Landauer, der all zu oft als „Räterevolutionär", aber selten als Mystiker bezeichnet und gewürdigt wird, sondern auch über einen Landauer, der Anarchie und Mystik zu verbinden und miteinander zu verschmelzen wusste. Als solcher hatte er auf Anarchisten kaum Einfluss und genoss wenig Beachtung. Das gilt heute noch. Aus meiner Perspektive würde einiges an Landauer Objekt meiner Kritik werden; gleichzeitig möchte ich hiermit zum Ausdruck bringen, dass Landauer einer der wenigen deutschsprachigen Anarchisten war, der das beliebte und immer noch befürchtete Wort Anarchie adäquat verstanden hat – in einer besonderen Hinsicht. Denen, welche in Landauer keinen „richtigen Anarchisten" sehen, bleibt nur eines zu sagen: Wer nicht fähig ist, in Anarchie eine Mystik zu empfinden, der besitzt, meiner Ansicht nach, auch nicht die Fähigkeit, sich von Herrschaft loszureißen, denn gerade in der Mystik löst sich alle Herrschaft auf. Damit wird Valérys Feststellung letztendlich bestätigt. Dass aber nicht jeder Anarchist für die Mystik empfänglich ist, deutet auf die geistig-psychische Abhängigkeit des Anarchisten, der an die Herrschaftsstrukturen gebunden ist. Landauers Kritik an den meisten Anarchisten beruhte auf seine Theorie der „Wiedergeburt", wobei er die „Wiedergeburt" als Voraussetzung für einen von Zwängen der Gesellschaft und der Sprache befreiten „neuen Menschen" verstand. Aus dieser Perspektive verwarf er eine anarchistische Gesellschaft in der „Zukunft" und wies auf die Realisierbarkeit der Anarchie in der Gegenwart hin. Joachim Willems liefert auch zu der Theorie der „Wiedergeburt" wichtige Informationen und untersucht dabei die Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen dem Mystiker Meister Eckhart und Landauer.

In Joachim Willems Buch sehen wir weiterhin auch einen autonom denkenden Landauer, der Elemente aus der religiösen und nicht-religiösen Mystik zu einem Gedankensystem zu entwickeln vermochte. Wir lernen darin Landauer als Übersetzter von Peter Kropotkin und Oscar Wilde kennen, wir erfahren Kenntnisse über die gegenseitigen Einflüsse Landauers und Martin Bubers, über ihre Zusammenarbeit im „Sozialistischen Bund", über Landauers „autonome Bünde", die nicht zukunftsorientiert, sondern den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft „neben dem Staat" beabsichtigten.

Das Phänomen Mystik wird in vielen Formen vorgestellt, ihre Berührungspunkte und Unterschiede zum Pantheismus, zur Theologie, Anthropologie usw. werden diskutiert.

Wir lesen darin über die Einflüsse Fritz Mauthners und Meister Eckharts auf den einstigen Sozialisten und den späteren Mystiker Landauer. Die politische und philosophische Entwicklung Landauers wird in seinen Schriften Schritt für Schritt beobachtet und genau beschrieben. Auf eine bestimmte Sachlage geht Willems leider nicht ein, die doch in ihrem Kontext sehr auffällig ist.

Der mit Fritz Mauthner eng befreundete Landauer hatte von diesem während seiner Entwicklung vom politischen zum mystischen Anarchisten einige Gedankenzusammenhänge in Anspruch genommen. Gleichzeitig führte Landauer auch mit Max Stirners Gedanken eine Auseinandersetzung, die in seiner Entwicklung keine unwichtige Rolle gespielt haben. Willems weist hierbei auf einen interessanten Punkt hin, dabei beschränkt er sich aber leider auf kurzen Fußnoten. Da diese Thematik in Willems Buch wenig berücksichtigt wird, werde ich an dieser Stelle Landauers Stirner-Verständnis kurz skizzieren.

Auf Seite 38 seines Buches stellt Willems fest: „Zum Verhältnis der Gedanken Landauers zu Mauthners Sprachphilosophie muß allerdings auch darauf hingewiesen werden, daß Landauer zu ähnlichen Ergebnissen schon 1895 ohne Kenntnis der Mauthnerschen Kritik gekommen war. Dazu zählt vor allem die Infragestellung des Individuums, die Skepsis den Sinnesorganen gegenüber und die Erkenntnis der ‚Hohlheit‘ von Begriffen."[1]

Meiner Ansicht nach hat diese „Kenntnis" von Landauer keine unbedeutende Wirkung gehabt; Willems scheint diesbezüglich nicht anders zu denken, wenn man sich sein Zitat genau anschaut. Vor allem der letzte Satz zielt direkt auf Stirner (Willems, Quellenangabe mit Erwähnung Stirners, Fußnote 130); doch Joachim Willems geht auf diesen Zusammenhang mit Stirner nicht ein. Wenn der Autor zu Recht darauf hinweist, dass „Landauer zu ähnlichen Ergebnissen schon 1895 ohne Kenntnis der Mauthnerschen Kritik gekommen war", und hierbei in der Anmerkung auf Landauers Auseinandersetzung mit Stirner hinweist, dann wäre eine sachliche Aufklärung der Problematik zu erwarten. Denn Landauer hatte sich zunächst in seiner Schrift Zur Entwicklungsgeschichte des Individuums mit Stirner auseinandergesetzt und später nahm er diese Gedanken, ohne sie zusammenfassend zu analysieren, in Skepsis und Mystik auf, um unter seine Stirner-Deutungen einen Schlussstrich zu ziehen. In Skepsis und Mystik hingegen setzt er sich direkt mit Mauthner auseinander. Gerade mit Stirners energischer Sprachkritik eröffneten sich Landauer in der Entwicklungsgeschichte des Individuums die Tore der Mystik, welcher er später durch Mauthner und Meister Eckhart ganz gehört. Stirner, diesem „letzten" und „großen Nominalisten", hat er damit für immer den Rücken gekehrt. Es wäre interessant herauszuarbeiten, warum Landauer Stirner auf halbem Weg verlassen hat, nachdem ihm mit Stirners Hilfe die Spitze des Berges zu sehen schien. Stirner diente ihm hierbei als eine Leiter, die beim Erreichen des Ziels unbrauchbar wurde.

Bernd A. Laska versucht in seinen Stirner-Studien Gustav Landauer eine „Verdrängung" nachzuweisen und stellt fest: „Landauer versuchte die Abkehr von Stirner auf eine Weise, die den Kenner der Stirner-Rezeption nicht überrascht: Verdrängung statt Auseinandersetzung und Argumentation"[2]. Obwohl sicherlich einiges dafür spricht, kann ich diese Prognose nicht ganz teilen. Vielleicht wird sich Joachim Willems dieser Problematik annehmen. Es wäre vor allem im Hinblick auf die Landauersche Philosophie ein wichtiges Unternehmen.

In Bezug auf Laskas Behauptung sind Zweifel angebracht, weil Landauers Kritik an die Nominalisten (damit auch an Stirner) „begründet" ist. Er zielt auf eine Überwindung des Nominalismus, er umschreibt Stirners „Lehre" in diesen Worten: „Der Gottesbegriff ist zu vernichten. Aber nicht Gott ist der Erzfeind, sondern der Begriff."[3] Damit „überwindet" Landauer nicht nur den Nominalismus, sondern auch die gottlose Mystik, in der Stirner tendenziell zu sehen ist. Dennoch sehe ich darin ein Problem. Mit einem Philosophen, der Landauer seit seiner Jugend beeinflusst hat, macht man keinen kurzen Prozess. Man muss Stirner zum Schweigen bringen, um ihn zu überwinden. Von diesem Unternehmen war Landauer weit entfernt. In der Entwicklungsgeschichte des Individuums täuscht Landauer vor, auf die Spur des Stirnerschen Ich gekommen zu sein, doch er berührt die Tiefe der Stirnerschen Philosophie nicht, stattdessen baut er seine Kritik auf die „Illusion und die Nicht-Einheit des Ich", eine Kritik, die Mauthner ebenfalls aus ähnlichen Gründen geäußert hatte.[4] Hierzu liefern beide keine philosophische Auseinandersetzung. Landauer blieb mit seinen Argumenten sehr karg, er hätte Stirners Ich im Zusammenhang vor allem mit Stirners Nichts, welches ebenfalls den Nominalismus überwindet, untersuchen müssen. Somit kommt sein geistiger Kampf gegen Stirner auf halbem Weg zum Stehen. Das Ich Stirners tritt als Nachfolge Gottes auf die Bühne. Das bestätigt auch Landauer. Es steht außer Frage, dass Stirner kein „gewöhnlicher" Mystiker ist: Stirner stellt das religiös-mystische Nichts auf den Kopf um sein Nichts auf die Füße zu stellen, damit es zu einem Alles wird, das als selbstschöpferischer Einziger wiedergeboren wird. Damit kann die christliche Mystik, die an den sogenannten Gottessohn gebunden ist, nicht viel anfangen. Überhaupt die monotheistisch-religiöse Mystik, ist mit dem Stirnerschen Nichts schwer zu vereinbaren. Das muss Landauer „erkannt haben" bzw. er war nicht im Stande, sich dieser Problematik anzunehmen. Seine kargen und teilweise „exzentrischen" Versuche, Stirner zu überwinden, zeigen dies. Schließlich begeht er hier mindestens einen (ersten) Fehler. Anstatt gegen Stirner zu argumentieren, schweigt er und begibt sich in die Ahnentheorie, womit er gegen das Individuum, indirekt gegen den Stirnerschen Einzigen, zu argumentieren versucht (Skepsis und Mystik). Das macht ihn verdächtig, einer „Verdrängung" zu unterliegen. Nichts von dem, was Landauer gegen Stirners Egoismus bringt, hat Tiefe (Zur Entwicklungsgeschichte des Individuums). Darin zeigt sich Landauer als ein politischer Agitator, der die Grundsteine der Stirnerschen Philosophie dadurch keinesfalls zerrütten kann.

Landauer macht in seinem Buch Skepsis und Mystik einen interessanten Übergang (zweiter Fehler): von dem „großen Nominalisten", der die „notwendige Säuberungsarbeit", „die aufgeblasene Nichtigkeit der Abstrakte", vollzogen hatte, kommt Landauer logischerweise auf den „Ichbesessenen", der seinen Einzigen auf den entleerten Stuhl Gottes gesetzt hat, zu sprechen. Anstatt aber seine Diagnose im Bezug auf diesen Einzigen zu erläutern, „die Nichtigkeit des Konkretums, des isolierten Individuums" nachzuweisen, geht er den entgegengesetzten Weg, ohne sich mit Stirners philosophischem Gehalt auseinanderzusetzen. Er liefert, obwohl von Stirner ausgehend, keine Gegenargumente bezüglich des ichbesessenen Einzigen, sondern versucht es nur noch mit anderen Mitteln (z.B. „Ahnengemeinde"), die Nichtigkeit des Individuums zu erklären. Meine skizzierte Vermutung und damit Laskas „Verdrängungsthese" gewinnt an dieser Stelle ihre Bestätigung, wobei Laskas Behauptung begründungsbedürftig ist, denn er liefert wenig inhaltliche Auseinandersetzung, was das Problem nicht vereinfacht. Andererseits scheint es mir, dass Landauer seine Leiter an falscher Stelle angesetzt hat. Es ist gut möglich, dass Landauer Stirner also missverstanden hat, seine karge Argumentation gegen Stirner muss also nicht unbedingt einer „Verdrängung" zugrunde liegen. Obwohl ein eigenständiger Denker, war Landauer zu sehr an die Traditionen seiner herkömmlichen Kultur gebunden. Er war ein Teil der jüdisch-christlichen Tradition. Die scharfe Logik Stirners war aus seiner Sicht nicht nachvollziehbar. In der Geschichte der Mystik ist etwas sehr auffallend: Die Mystik wird von jeder Religion in Anspruch genommen, um sie immer mit der jeweiligen Religion, zu der der Mystiker gehört, zu verbinden. So nimmt der jüdisch geprägte Mystiker sie für das Judentum in Anspruch, der christlich geprägte für das Christentum, der islamisch geprägte für den Islam usw. Nichtreligiöse Mystiker und ihre Position in der Mystik sind schwer zu definieren – für sie selbst und für den Interpreten. Landauer konnte aus genannten Gründen mit Stirners gottloser Mystik nicht viel anfangen. So begab er sich in die christlich-jüdische Mystik, deren religiöse Elemente ihm vertraut waren.

Spätestens bei seiner Darstellung von den „Übereinstimmungen und Unterschiede(n) von Skepsis und Mystik und Zur Entwicklungsgeschichte des Individuums" (ab S. 77) hätte Joachim Willems Stirners Rolle beschreiben müssen. Denn genau bei diesem Übergang „überwindet" Landauer Stirner. In allem, was Landauer gegen das Individuum vorführt und die Gesellschaft (diese ist nicht weniger eine Illusion als das Individuum) in Schutz nimmt, führt er einen Kampf gegen den letzten großen Nominalisten, ohne ihn beim Namen zu nennen, um ihm für immer seinen Rücken zu kehren. Hierzu hat Joachim Willems Landauers dunkle Seite nicht belichtet.

Zum Schluss möchte ich auf einen Punkt hinweisen, dessen Untersuchung wahrscheinlich ein sinnvolles Ergebnis bieten würde: Es wäre interessant, den Zusammenhang zwischen Landauers Wiedergeburtstheorie und Stirners Entfremdungstheorie herauszuarbeiten; auch Stirners „neuer Mensch" war kein Zukunftswesen, sondern ein von Zwängen befreites, wiedergeborenes Ich, welches den Beinamen Nichts hat. Ob das schöpferische Nichts ein vergöttlichtes oder ein verteufeltes Nichts oder gar eine Nullphilosophie ist, bleibt zunächst offen.

éñá

 Fußnoten

* Joachim Willems: Religiöser Gehalt des Anarchismus und anarchistischer Gehalt der Religion? Die jüdisch-christlich-atheistische Mystik Gustav Landauers zwischen Meister Eckhart und Martin Buber. Verlag Ulmer Manuskripte. Albeck bei Ulm 2001

[1] Joachim Willems: Religiöser Gehalt des Anarchismus und anarchistischer Gehalt der Religion? Die jüdisch-christlich-atheistische Mystik Gustav Landauers zwischen Meister Eckhart und Martin Buber. Verlag Ulmer Manuskripte. Albeck bei Ulm 2001, S. 38.

[2] Bernd A. Laska: Ein dauerhafter Dissident, LSR-Verlag Nürnberg, 1996, S. 58.

[3] Gustav Landauer: Skepsis und Mystik.. Verlag Büchse der Pandora, Münster / Wetzlar 1978, S. 12.

[4] Zu Mauthners Stirnerverständnis siehe: H. Ibrahim Türkdogan: Omar Chajjam und Max Stirner, Verlag Max-Stirner-Archiv, 2001, S. 9-14 bzw. ders.: Der Einzige und das Nichts, Verlag Max-Stirner-Archiv, 2003, S. 84-93

Quelle: DER EINZIGE.  Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, Februar 2003 

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