Stirner und Sartre
von Ibrahim Türkdogan

 

"Alle Menschen sind also langweilig." 

- Sören Kierkegaard -

Jean-Paul Sartre

Schon seit Jahrhunderten hat sich im Nachdenken des Menschen über sein Selbst und über sein Dasein in der Welt ein Gefühl der Angst vor dem Nichts eingenistet und bis zur Unerträglichkeit verschärft: das Gefühl, wir seien in ein auswegloses Verhängnis verstrickt, vergrößert das Dilemma des menschlichen Daseins im Abendland Tag für Tag. Und die ewige Frage, was der Mensch nun sei, über die täglich neu gedacht wird, raubt den Menschen die Möglichkeit, sich aus dem Teufelskreis zu befreien. Seitdem die Philosophen,Denker, Schriftsteller über die Grundsätze des menschlichen Zusammenlebens nachdenken, plädieren sie jedesmal nach einer geistigen Niederlage für eine neue "grundsätzliche" Veränderung. Sie untersuchen die Merkmale der Angst, der Sinngebung, der Nichtigkeit und die des hoffnungslosen Alleinseins in einem "bedeutungslosen Universum". Und schließlich erkennen sie in der "Geworfenheit" (Heidegger) das Abbruchgefühl, "alles sei absurd und weiterzuleben ebenso sinnlos wie sich umzubringen". 

Zudem entwickelten sich im Laufe der abendländischen Philosophie zahlreiche Strömungen, darunter auch die Existenzphilosophie und ihre politisch aktive Ausformung: der Existentialismus. Beide erkennen die aktuelle menschliche Situation als eine Entfremdung der Existenz vom Wesen. Unser Dasein (Existenz) und unser Wesen sind auseinandergefallen, entzweit, entfremdet. Dazu haben sich viele Philosophen - Sören Kierkegaard, Martin Heidegger, Gabriel Marcel, Karl Jaspers und schließlich Jean-Paul Sartre - geäußert. Jeder von ihnen hat ein wissenschaftliches, religiöses System theoretisch zusammengefaßt und der Menschheit angeboten. Während Kierkegaard und Jaspers eine religiöse Art des Existentialismus entwarfen, entwickelten Heidegger und Sartre eine atheistische. Letztendlich entfernte sich Sartre vom Heideggerschen mystischen Seinsbegriff und stellte ausschließlich den Menschen in den Mittelpunkt seiner Theorie, womit er seine Philosophie "humanistisch" nennen mochte. Mit diesen humanen, religiösen, wissenschaftlichen wie auch immer Theorien beschäftigte sich auch Max Stirner, der schon vor Sartre und Heidegger den Menschen in der "Geworfenheit" sah und daher jeden Einzelnen als sein Eigen wahrgenommen hatte. 

In dem Roman "Der Ekel" von Sartre verliert das Leben für Antoine Roquentin seinen Sinn. Er versucht, seinem Ekel vor Dingen und Menschen auf den Grund zu gehen. Ihn wollen wir unter die Lupe des vergessenen und in der Philosophie wenig beachteten Egoisten Stirner nehmen. Schließlich war Stirner in der abendländischen Philosophie der erste nach den Kynikern, der die Entfremdung in ihren verschiedenen Formen gründlich untersuchte und ans Tageslicht brachte. Während die Philosophen zu seiner Zeit (Hegel, Marx, Feuerbach, Proudhon) von Göttern sprachen und deren Existenz bejahten, machte Stirner in seinem einzigen Werk ("Der Einzige und sein Eigentum", 1844) mit einem Satz: "Ich hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt" (1) dies alles zunichte. 

Es lohnt sich, hier einige Bemerkungen zu seiner Zeit zu machen. Alle damaligen Philosophen hatten durchdachte und fast fertige Gedankensysteme, die Stirner als fixe Ideen (2) bezeichnete. Eine fixe Idee bedeutete für Stirner Unterwerfung des Menschen. Diese fertigen Systeme waren unter anderem bei Feurbach der Mensch ("Der Mensch ist dem Menschen das höchste Wesen" 3), bei Marx der Sozialismus, bei Hegel die Staatsideologie, bei Proudhon das Sittengesetz, bei Fichte das absolute Ich usw. usf. Stirner, der all diese Ideologien und "ismen" als neue Götter bezeichnete, ließ sie alle in Flammen aufgehen - und nicht nur die Götter, sondern auch ihre Diener. (Die heiteren Flammen erreichten auch Nietzsche, der zu behaupten wagte, Gott sei tot, und sich dennoch einem neuen Gott, nämlich dem "Übermenschen", unterwarf.)

Stirner, der eine sehr gründliche Analyse des Menschen macht, begreift ihn nicht als ein leeres Gefäß, das noch gefüllt werden muß, sondern als ein von Natur aus vollendetes und schöpferisches Wesen, das imstande ist, sich ohne jeglichen Imperativ zu entwickeln. Und zwar jeder einzelne nach seiner Art und Weise, d.h. nach der Authentizität (Sartre), nach Eigenheit (Stirner). Sartres Prinzip lautet "Die Existenz geht der Essenz voraus" (4) , dazu sagt Stirner: "Freilich kann ich nicht denken, wenn ich nicht sinnlich existiere. Allein zum Denken wie zum Empfinden, also zum Abstrakten wie zum Sinnlichen brauche Ich vor allen Dingen Mich, und zwar Mich, diesen ganz bestimmten, Mich diesen Einzigen... Vor meinem Denken bin Ich"(5). Das will sagen, ich bin der Eigner des Denkens und dieses Denken ist mein Eigentum. Sartres Authentizität und Stirners Eigenheit sind bis zu einem gewissen Punkt identisch. Das wird weiter unten erklärt. 

Nach Stirner erhalte ich ein reines, eigenes Ich, wenn ich das Fremde, die Gesellschaft aus mir hinauswerfe. Um nichts anderes geht es im "Ekel", dessen Held alles ihm vom außen Gegebene, das Fremde, aus sich hinauswirft. Der Roman endet eigentlich mit dem Stirnerschen Satz: Ich hab' mein Sach' auf Nichts gestellt, aber mit einem Unterschied: Antoine Roquentin ist ein leidender Melancholiker, dem die Tür des Lachens und der Lüste für immer geschlossen bleibt. Mit einem melancholischen Blick sieht er sich um. Im Gegensatz zu Sartre ist Stirner ein großer Lacher mit gelassener Heiterkeit. Wir hören Stirner: "O Du mein vielgequältes, deutsches Volk - was war deine Qual? Es war die Qual eines Gedankens, der keinen Leib sich erschaffen kann, die Qual eines spukenden Geistes, der vor jedem Hahnenschrei in nichts zerrint und doch nach Erlösung und Erfüllung schmachtet... Fahre wohl, Du Traum so vieler Millionen, fahre wohl, Du tausendjährige Tyrannin deiner Kinder! Morgen trägt man Dich zu grabe; bald werden deine Schwestern, die Völker, Dir folgen... und Ich bin mein Eigen, Ich bin der lachende Erbe!"(6). Dieser Unterschied wird erst dann grundlegend, als Sartre aus dem Nichts einen Humanismus oder einen dialektischen Marxismus entwickelt, der wiederum nichts anderes bedeutet als ein neuer Gott, ein neues Dogma, das über die Menschheit herspukt, von dem Stirner sich radikal distanzierte, um sich nicht einer neuen Moral zu unterwerfen. Melancholie entstand aus den Trümmern des christlichen Jenseitsdogmas. Darin erkrankt auch Sartres Authentizität, mit der Hoffnung, sich mit Hilfe einer Moral auszuleben, entwickeln zu können. 

Der Mensch ist das, was er ist, was er aus sich macht. In der Geworfenheit, Endlichkeit und Faktizität erfährt sich der Mensch als Eigenheit und Möglichkeit; die Möglichkeit entscheidet über seine Eigenheit: möglich ist alles, was ich mir geben kann. Bin ich imstande den Gott, den König, Zeus u.s.w. zu stürzen, dann bin ich auch dazu berechtigt, es zu tun, denn ich leite alles aus mir her. Und dieses Ich ist weder göttlich noch menschlich, weder gut  noch böse. Pflichten, Gewissen, Gesetze usw., das sind alles Flausen, mit denen Erziehung und Moral den Menschen vollgestopft haben. Der Mensch wird grundsätzlich durch Erziehung und Moral eingeschränkt, also sollte er von Erziehung und Moral befreit werden. Wenn ich also von allem, was nicht meiner Eigenheit entspricht, befreit bin, bin ich lediglich frei. Schön, und was dann? "Was nun weiter geschehen soll, nachdem Ich frei geworden, darüber schweigt die Freiheit, wie unsere Regierungen den Gefangenen nach abgelaufener Haftzeit nur entlassen und in die Verlassenheit hineinstoßen" (7). Der Freigewordene muß sich erst  vervollkommnen, dafür braucht er die Gewalt, durch diese Gewalt hört er auf, ein Freigewordener zu sein; erst dann ist er ein Eigener. "Man kommt mit einer Hand voll Gewalt weiter, als mit einem Sack voll Recht"(8). Diesem in die Verlassenheit Hineingestoßenen reicht Sartre seine Hände, ruft ihn in den Schoß der Sittlichkeit. Nach Stirner ist der Eigene der geborene Freie, der Freie von Haus aus. Die mir von außen gegebene Freiheit ist die unechte, ist ein Begriff, ein Wort, eine fixe Idee, nach der ich mich einrichten soll. Auch Sartre spricht von dieser angeborenen Freiheit, von dieser Echtheit. Lebe ich nach meiner Echtheit, so erübrigt es sich, frei zu werden, denn die Echtheit (Eigenheit/Nacktheit) ist der Freiheit voraus. Was ist nun diese Echtheit? Ein Etwas, ein von regel- und gesetzlosen Trieben, Begierden, Wünschen, Leidenschaften geführtes Leben. Dieses Etwas, das im Grunde ohne Attribute existiert, ist die Unmoral, die Gesetzlosigkeit und die Anarchie. Attribute sind für Stirner nur Hindernisse, durch die er eingeschränkt werden könnte. Stirner ist zu nichts berufen, hat keine Aufgaben, erkennt keine Vernunft an: " Meine Leidenschaft würde mir gerade zum Unsinngsten raten". Doch wir erschrecken uns heute vor unserer Nacktheit und Natürlichkeit (Echtheit). Dieses Erschrecken läßt den Helden im "Ekel" leiden, es macht ihn ernst. Er ist sich einerseits seiner Eigenheit, die zu nichts berufen ist, bewußt, aber er ist noch kein eigener Schöpfer; er ist noch mit der Vernunft  zu sehr beschäftigt. Antoine Roquentin, der sich zu keinem Geschöpf anderer machen will (Stirner), ist noch nicht in der Lage, seiner Echtheit einen praktischen Ausdruck zu geben (Möglichkeit/Macht). Er schüttelt sich, negiert die Selbstverleugnung (Stirner), erkennt sich wieder (Echtheit), doch er leidet. Das Tun und Treiben um ihn herum, die Unechtheit, ist zu groß, zu mächtig. Darauf gibt Stirner uns mehrere Antworten, eine davon lautet: "Einen Felsen, der Mir im Wege steht, umgehe Ich so lange, bis Ich Pulver genug habe, ihn zu sprengen"(9). Nach Stirners Ansicht geht es dem Staate z.B. um sich und nicht um meine Bedürfnisse, denn er will aus mir ein anderes Ich machen, das ihm dienen kann. Und ich, der Eigner, werde diesen Staat umgehen, bis ich in vollem Besitz der Gewalt bin, ihn zu vernichten; beispielsweise kann ich mich mit meinen Gleichgesinnten vereinigen, damit ich gegen den Staat gewaltig genug auftreten kann. An dieser Stelle spricht Stirner von einem Verein als Alternative gegen die sittliche Gesellschaftsordnung. Der Verein der Egoisten hat den Zweck, den Beteiligten zu dienen und nicht einer höheren Macht. Der Beteiligte ist zu nichts verpflichtet, er folgt nur seinen Interessen. Der Sozialismus, für den Sartre plädiert, ist eine Gesellschaft der Menschen, und nicht ein Verein von Ichen. Sartres Theorie des Sozialismus kann und will ohne Sittlichkeit nicht bestehen. Dort wird die Mitgliedschaft als eine Pflicht aufgelegt. 

Hier können wir sehen, wie Sartre und Stirner ihre eigenen Wege gehen. Sartre, der die Absurdität der Gesellschaftsordnung in seinem "Ekel" konsequent ans Tageslicht bringt, benennt sein menschliches Wesen später als einen sittlichen Menschen, der in einer Ordnung des marxistischen Sozialismus zu gelten hat. Der freie Akt des Existierenden, des Unbenennbaren, schrumpfte zum politisch zielgerichteten Tun im Dienste einer neuen Gesellschaftsordnung. Antoine Roquentin, der sich von all den Dingen, die ihn anekeln, und von der Welt der Erklärungen befreit hatte, sitzt nun im Jenseits der Echtheit. Seine "Existenz" bekommt Namen, Titel: er wird zum Humanisten, Sozialisten, Marxisten. Der Kommunismus wird als der einzige Retter der Unterdrückten gesehen. Erst durch diese Gesellschaftsordnung "wird er ein Mensch". Sartre folgt einem Menschheitsideal. Er hat den Menschen im Ziel, damit ist der Mensch seine Aufgabe, sein Ideal und sein Beruf. Sein gegenwärtiges Ich ist Schaum und Schatten. Stirner macht sich zum Ausgangs- aber nicht zum Zielpunkt. Der Kantische Ansatz "Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß"(10) ist ein Grundstein der Sartreschen Philosophie. Weiterhin ist ein allgemeiner Konsens, ein kategorischer Imperativ ("Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde" - Kant) das Ziel des Sartreschen Humanismus. Liest man den "Ekel" und im Gegensatz dazu andere Schriften (z.B. "Das Sein und das Nichts") von ihm, so ist es nicht schwierig festzustellen, daß Sartre sich widersprach. Doch das hätte Stirner kaum interessiert, da er auf seinem Ichstandpunkt beharrte. Er möchte sich auf keinen Fall verleugnen, er will seine Echtheit konsequent ausleben, auch wenn dies die Vernichtung der jeweiligen Gesellschaftsordnungen bedeutete. Stirner negiert im Gegensatz zu Sartre alle Gesellschaftordnungen, denn in jeder Ordnung sieht er Schranken, die er nicht leiden kann. Ein allgemeines Gesetz, ob juristisch oder sittlich, bedeutet für ihn Herrschaft, unter der er zu leiden hat. In der Sartreschen Gesellschaft ist Stirner nicht sein eigener Herr; die Gesellschaft lebt auf Kosten des Einzelnen. Im Gegensatz dazu ist der Verein der Egoisten ein Werkzeug oder ein Schwert, wodurch der Einzelne seine natürliche Kraft verschärfen und vergrößern kann . Im Verein ist der Mensch egoistisch, in der Gesellschaft menschlich, religiös. Dem Verein schuldet er nichts, der Gesellschsft schuldet er, was er hat, und vor allem seine Echtheit, da er einem allgemeinen Gesetz verpflichtet ist. Wollte Sarte beispielsweise die Befreiung des Proletariats, des Unterdrückten, so hatte Stirner dessen Vernichtung im Auge. Das Proletariat ist ja kein Ausdruck für den einzelnen, sondern eine Allgemeinheit, in der das Individuum zugrunde geht, da diese Allgemeinheit aus bestimmten, d.h. fremdgegebenen Prinzipien besteht. Stirner, der seine zügellosen Wünsche und Instinkte ausleben möchte, betrachtet alles als Bedürfnisse, Lüste. Ein deutlicheres Beispiel wäre eine Party im Gegensatz zu einer Partei. An dem ersten Ort befindet sich Stirner freiwillig, an dem zweiten aber gezwungen. Dort verbraucht er seinen Lebensgenuß, hier ist er von Gedanken, von Idealen umgeben; hier wird er verbraucht. Der Verein wird als ein Werkzeug angesehen, und der einzelne als Eigen , der dort seine Echtheit zum Ausdruck bringt. Er ist z.B. nicht verpflichtet, human oder inhuman zu sein; er ist kein Mitglied, das nur seine Mitgliedsrechte genießen oder ertragen muß. Eine sozialistische Gesellschaft hingegen will den einzelnen formen, erziehen. Dressur ist einer der Bestandteile der Gesellschaft. Die Sartresche Gesellschaft muß den einzelnen verbrauchen, um als eine freie und humane Allgemeinheit existieren zu können. In einem Interview sagte Sartre, jeder Mensch müsse das Produkt einer Gemeinschaft sein. Wir sehen, daß sich die beiden Herren voneinander sehr stark unterscheiden; und zwar nicht nur in der Hinsicht, wie der pädagogisierte Mensch zu sich zurückfindet, sondern ihre Wege sind grundsätzlich verschieden. Sartre, der von einem werdenden Menschen spricht, entwirft eine "neue" Ideologie, die einem festen System gemäß handelt. Er konstruiert eine philosophische Theorie, die er für die Veränderung des unterdrückten Menschen voraussetzt. Für Stirner sind all das nur Gespenster, die dem Menschen das Selbst  rauben: ob Kommunismus, Sozialismus, Demokratie und wie sie auch sonst noch heißen mögen. Sie sind dafür da, den einzigen, der ja nur nach seinem Genuß handelt, zu bändigen, einzuschränken, zu deformieren, kurz, ihn zu verbrauchen. So wünscht Stirner sich, all dies zu verbrauchen, ohne sich ihm zu verpflichten. Er ist selbst sein Standpunkt und zugleich sein eigener Richter, der alle Gesellschaftsordnungen zunichte machen will, wenn er darin ein Hindernis sieht. Ein Hindernis nämlich gegen seine freie Entfaltung, also gegen seine Wünsche. Er verlangt aber keine Freiheit, weil auch Freiheit nur ein Gespenst ist, das herumspukt.

Der Revolutionär, sagt Sartre, wartet nicht auf den Sozialismus, er schafft ihn. Der Revolutionär handelt also, um die Welt zu verändern. Im "Ekel" war doch letztlich alles zufällig und absurd und nun, wie es scheint, bekommt der Sozialismus für Sartre einen Sinn, vor ihm ekelt er sich nicht bzw. scheint hier der Ekel einen Sinn zu haben. Ich ekle mich, also bin ich. Und ich bin damit zufrieden. Nein, so einfach ist das nicht. Sartre kann seinen Ekel nicht mehr ertragen, aber er kann ihn auch nicht loswerden. Er kann dem Ekel (der Melancholie) nicht entgehen, er ist nicht in der Lage, das Fremde aus sich hinauszuwerfen; er ist, würde Stirner sagen, durch und durch mit Ekel befleckt. Stirner fragt: Wozu Sozialismus? - da ich mich selbst habe. Und darum genieße ich mich. Er fragt nicht, wie er das Leben erst erwerben soll, sondern wie er es vertut. Er fragt erst gar nicht, wie er sein Selbst erreichen soll, sondern wie er sich auflösen und ausleben kann. Es wäre ein Ideal, eine Sehnsucht, eine Hoffnung, sich in einer zukünftigen Gesellschaft (z.B. im Sozialismus) auszuleben. Also auch Ideale und Sehnsüchte sind Gespenster, die gar nicht existieren. Die Existenz bedarf keiner Erklärung, keiner Namen. Stirner würde uns folgendes mitteilen: Ich bin da, ich existiere. Und ich genieße es zu existieren, ähnlich wie eine Pflanze, die ihre inneren Gesetze oder Gesetzlosigkeiten hat. Ist der Staat ein Hindernis für meine Existenz, so muß ich ihn abschaffen und dabei brauche ich gar keine neue -ismen, neue Menschheitsideale. Ich mache aus der Existenz keinen Existentialismus. Genau das ist der Punkt, wo Sartre irrt und seiner Echtheit ein Ende setzt. Stirner würde etwa sagen: ich brauche keine Rechte, Pflichten, nicht einmal ein Argument, um mich zu rechtfertigen. Kann ich mich ausleben, so bin ich frei, kann ich dies nicht, dann werde ich Geschöpf anderer, so z.B. Geschöpf des Sozialismus oder des Materialismus usw. Dieses Ich verfeindet sich mit anderen Ichen nicht, solange sie nicht versuchen, aus diesem ein Geschöpf/einen Diener zu machen. Stirner sieht in Jedem einen einzigen und jeder Mensch hat ursprünglich genug Kraft und Macht zu leben, somit erübrigt es sich, jemandem auch nur zu empfehlen: gebrauche deine Kraft. Er will keinen moralischen Einfluß auf Menschen ausüben. Es ist ein Unterschied, jemandem zu sagen: Möchtest du nichts essen, du würdest verhungern – oder: Bete, bevor du was ißt. Sartre fordert  jeden auf, ein Revolutionär zu werden, damit er für seine zukünftige Freiheit kämpft. Er plädiert sogar für eine Führung (Kommunistische Partei), die ja die Unterdrückten zum Sozialismus führen soll. Für Stirner würde dies einen Imperativ bedeuten, der den Sinn hat, Menschen zu zeigen, daß es ihre Aufgabe oder Pflicht ist, ihre Kräfte zu gebrauchen. Stirner geht davon aus, daß sich jeder in jedem Augenblick zum Ausdruck bringt, ohne dies für seine Aufgabe zu halten. Weil Kräfte sich stets von selbst ausleben, wäre das Gebot, sie zu verbrauchen, überflüssig und sinnlos. Weiterhin sieht Stirner in niemandem einen Herrn oder einen Diener. Er sagt, Du bist Mir und Ich bin dir kein höheres Wesen (11). Er schafft kein gesellschaftliches System, aber nach ihm hat jeder die Möglichkeit, sich in Gemeinschaften, z.B. in dem Verein, zu entwickeln. Sartres Existentialismus ist eine Flucht, er ist ein Flüchtling im Schoße der Sittlichkeit, der Theorie einer Philosophie der Vernunft. Sartre ist eine Gattung der Moral (einer anderen Moral). Wie Antoine Roquentin stammt er aus dem Pessimismus; Roquentin ist ein Pessimist, der die wohltuenden Schönheiten der Natur nicht genießen, die prachtvolle Zärtlichkeit und die Stärke des Meeres nicht ausstehen kann. Das Bleichgesicht leidet an seiner eigenen Existenz, lautet die Philosophie der Indianer. Über das Dilemma des Westens kann Stirner nur lachen. 

Stirner, der sich selbst als seine eigene Gattung betrachtet, hat sicherlich das Gefühl des Ekels auch gekannt, aber er hat ihn überwunden, indem er seinen Genuß wiedergefunden hat. Sartre zerbricht sich den Kopf über die Befreiung der Juden, der Proletarier. Was kümmert Stirner "die Betrachtung zur Judenfrage"! Jude oder Antisemit, beide sind für Stirner etwas Besonderes, weil sie sich zu etwas gemacht haben. Beide sind Opfer ihrer eigenen Ideologie, ihrer Ideale, ihrer Gedanken. Auch Sartre hat sich zu einem besonderen Etwas gemacht, nämlich zu einem Sittlichen. Stirner ist einzig und liebt seine Einzigartigkeit, macht aber aus der Liebe kein Gebot der Liebe, und das gilt auch für seine Einzigartigkeit. Sartre folgt der Berufung, ein sittlicher Mensch zu werden. Er macht aus der freien Tätigkeit, also aus dem freien Kraftausüben, eine Freiheitsideologie. Er verteidigt den Unterdrückten, will ihm seine Befreiung schenken, zumindest theoretisch. Somit ist er besessen von einer Moral, von einer Freiheit, die nichts zu bieten hat. Jeder, der nicht sich, sondern das Fremde in sich hat, ist ein Besessener, sagt Stirner. Auch die, die nach Freiheit suchen, sind davon betroffen. Die Freiheit an sich hat keinen Wert: der Einzige ist doch derjenige, der frei ist, er ist der Erste und auch der Letzte, der über sich entscheidet. Was hat er davon, wenn die unmündigen Völker frei werden? Ein Volk wird versuchen, seine Sitte ihm aufzuzwingen: also zur Hölle mit ihm, sagt Stirner. Da der Sozialismus als eine allgemeine Sache in den Menschen eindringen will (auch wenn Sartre ihn "neu definiert" hat), kann er in seinen verschiedensten Formen nicht von Stirner geduldet werden. 

Die Vernunft als Ganzheit zerfällt im "Ekel". Antoine Roquentin ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Außenseiter, der, wie üblich, leidet. Vom Über-Ich fast ganz befreit, fällt er in die Falle des Ekels hinein, der ihm einerseits die Möglichkeit zeigt, zu sich zu finden (Echtheit), ihn zugleich aber in die Isolation gleiten läßt. Der Held fängt an zu wackeln, auch wenn er seine Sache auf Nichts gestellt hat. Er hat nicht nur die Entfremdung aus sich hinausgeworfen, er ist auch sein Ich losgeworden. Das ist der Ekel. Das ist auch zugleich das Ende des Romans. Sartre holt seinen Protagonisten aus "Ekel" später in seinen anderen Schriften aus seiner Isolation heraus, gibt ihm einen Halt: er ist nun Revolutionär, Sozialist, Moralist, kurzum ein Gespenst, das, wie alle anderen Trugbilder, herumspukt; die Spukgestalt bekommt ihr Über-Ich zurück. Dafür aber verliert sie ihr Selbst  für immer. Wir hören ab und zu ihre innere Stimme, aber ihr Schein ist universell. Die Eigenheit Sartres wird zermalmt und Stirner lacht.

Fußnoten

  1. Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, Reclam Vlg., Stuttgart 1981, S. 412
  2. Alle kursiv geschriebenen Wörter und Sätze sind übernommen von Max Stirner.
  3. M. Stirner, a.a.O., S. 7
  4. Jean-Paul Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? Ullstein Sachbuch, 1989, S. 32
  5. M. Stirner, a.a.O., S. 382 und S. 395
  6. Ebenda, S. 238 und S. 239
  7. Ebenda, S. 180
  8. Ebenda, S. 184
  9. Ebenda, S. 183
  10. Immanuel Kant: Der Denker und Erzieher, Deutsche Buchgemeinschaft, Berlin 1961, S. 346
  11. M. Stirner: Der Einzige..., a.a.O., S. 44

QUELLE:   J. Knoblauch / P. Peterson (Hrsg): Ich hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt, Karin Kramer Verlag, 1996,  S. 121-129


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