MAX STIRNER UND DIE ANARCHISTEN
von H.
Ibrahim Türkdogan
Wer
Begriffe wie Geist, Freiheit, Gleichheit, Demokratie, wer noch irgend eine Idee
auf sich wirken läßt, der ist nicht nur fromm, er gehört auch zu den
Besessenen. Der, für den noch etwas existiert außer seinem Ich, ist noch nicht
einzig.
Der
Anarchist ist weder frei noch einzig, weil er eine Idee auf sich wirken läßt:
den Anarchismus. Wie weit kann ein Freier im Anarchismus nach seinen eigenen,
freien Wünschen leben? Ist er nicht gezwungen, nach den Kriterien der
anarchistischen Gesellschaft zu leben? Was ist aber, wenn der Freie diesen
Kriterien (Gleichheit Freiheit, Sozialismus usw.) überhaupt keine Achtung
schenkt? Der Einzige ist das Maß von
allem, nicht der Mensch. Der Einzige hat seine eigene Kriterien, der Mensch
seine menschliche und somit der Anarchist seine anarchistischen Prinzipien.
„Ich bin meine Gattung, bin ohne Norm, ohne Gesetz, ohne Muster ...“1
Das sagt Stirner und was hat das mit Anarchismus zu tun? Hat Anarchismus keine
Programme, keine Ziele, keine Gesetze? Eine Menge sogar!
„Alle
Wahrheiten unter Mir sind Mir lieb;
eine Wahrheit über mir, eine
Wahrheit, nach der Ich Mich richten müßte,
kenne Ich nicht. Für Mich gibt es keine Wahrheit, denn über Mich geht
nichts!“2 Wie weit kann eigentlich ein Anarchist mit Stirner den
gleichen Weg gehen? Ich fürchte nicht lange. Würden wir mit der Rechtsfrage
beginnen, so würden wir sehr schnell das Ende von diesem Artikel erreichen,
denn die Positionen beider Parteien kommen hier ziemlich klar zum Ausdruck. Sei
es drum. Im Allgemeinen ist der Anarchismus für eine Gerechtigkeit, er plädiert
sogar für einen Vertrag, wodurch die Rechtsnorm gesichert werden muß. Stirner
jedoch interessiert sich weder für einen Vertrag noch für das Recht. Im
Gegenteil, er will von Recht und Unrecht nichts wissen: „Ich bin nur zu Dem
nicht berechtigt, was Ich nicht mit freiem Mute tue, d. h. wozu Ich Mich nicht berechtige. Ich
entscheide, ob es in Mir das Rechte
ist ... Dies ist das egoistische Recht,
d. h. Mir ist’s so recht, darum ist
es Recht“.3 Demnach erkennt Stirner die Rechte der Anderen erst gar
nicht an. Jede Handlung geschieht aus pure egoistische Lust, er fragt nicht nach
Recht oder Gegenseitigkeit oder Gleichgewicht der Kräfte, von denen manche
Anarchisten sich begeistern lassen.
Nicht
anders geht Stirner mit der Gesellschaft um, er hat Verträge nicht nötig.
Statt dessen geht er in den „Verein der Egoisten“, um seine Wünsche zu erfüllen.
Die Gesellschaft – egal welche – ist für Stirner nicht interessant genug,
sie hat keine Ausstrahlung, sie glänzt nicht, im Gegenteil, sie ist verrostet,
unabhängig davon, wie ihre Idole heißen: Gegenseitige Hilfe, Solidarität
usw., von all dem will Stirner nichts wissen, sie können wohl unter Umständen
nützlich sein, aber daraus macht er keinen Vertrag. Die Gesellschaft ist eine
Intrigantin, geleitet durch das Prinzip Freiheit für Alle und Gleichheit für
Alle. Wegen dieser Verallgemeinerung, der systematischen Einheit, des
Gesellschaftsvertrages, der (theoretischen) Institutionalisierung und letztlich
wegen des Glaubens an das Prinzip, ist Anarchismus für Stirner nicht wünschenswert.
„Der Verein der Egoisten“ bedarf keine Verträge, keine Regeln. Wäre dem
nicht so, hätte Stirner den Verein anders definiert.
J.
H. Mackay, der sich würdevoll (abgesehen von seinem großen Lob für den „großen
Genie“ – klingt beinah lächerlich) und mit stolz als Wiederentdecker
Stirners bezeichnete, war kein bißchen frei vom o. g. Prinzip. Daß er Stirner
gerne an seiner Seite haben wollte, bzw. als den Begründer oder Vertreter des
von ihm selbst entwickelten (deutschen)
Individualanarchismus
sehen wollte,
ist verständlich. Zudem wollte er aber diesen Wunsch, bzw. Willen von
der Allgemeinheit akzeptiert und legitimiert sehen. Nur, seine Festhaltung an
der Freiheit und Gleichheit aller bzw. „Gleiche Freiheit Aller“ ist von
Stirners Einzigem weit entfernt. Der Wunsch, einen scharfsinnigen, kühnen Kopf
wie Stirner als „Meister“ zu haben, ist verständlich, vor allem, wenn man
sich selber ihm näher fühlt. Der Fehler ist aber: diesen Wunsch zu
realisieren, obwohl man weiß, sich sogar sicher ist, daß die Philosophie
desjenigen von der eigenen weit entfernt ist. Auch wenn diese uns so begeistert,
uns sozusagen aus der Seele spricht.
Ich
stelle folgendes fest: durch sein Versuch, Stirner zu klassifizieren, ihn in
seine individualanarchistische Sekte hineinzustecken, schadete er Stirner mehr
als seine „Wiederentdeckung“, die Stirner in die breite Öffentlichkeit
hinaus tragen sollte.
Anarchisch
sein ist mit Sicherheit eine von vielen Stirners Eigenschaften; rebellisch,
liebenswürdig, wütend, gottlos, individuell, gemeinschaftlich, und viele viele
andere. Das ist aber noch lange kein Grund, ihn zu klassifizieren.
Klassifikationen passen Stirner ganz und gar nicht, würde ihm an Titeln etwas lägen,
hatte er seine Sache nicht auf Nichts
gestellt.
Mackay,
ein Sprachgläubiger, versucht durch sein Prinzip den Worten absoluten Inhalt,
d. h. absoluten Wahrheitsgehalt, zu geben, dem Prinzip Vertrauen schenkend, die
„freie Gesellschaft“ zu beschreiben. Ein Denker ist Mackay, ein Denkgläubiger,
der durch die „Vernunft“ an die „Wahrheit“ gelangen möchte. Dabei übersieht
er die Gefahr der Sprache. „Die Andersdenkenden vertragen sich. Allein warum
sollte Ich nur anders denken, warum nicht das ‚Andersdenken‘ bis zu seiner
letzten Spitze treiben, nämlich zu der, gar nichts mehr von der Sache zu
halten, also ihr Nichts zu denken, sie zu ekrasieren? Dann hat die Auffassung
selbst ein Ende, weil nichts mehr aufzufassen gibt.“4
Das
soll nicht heißen, daß Stirner sich die Gedankenlosigkeit zu eigen macht,
nein, er ist, "voller Gedanken“, ja, sogar eine „Gedankenwelt“. Der
Grundfehler der Anarchisten und der Angehöriger aller –ismen ist, das Denken
einerseits und das Sein andererseits als Herrscher der Existenz zu verstehen.
Nichts anderes beinhaltet der Spruch „Cogito ergo sum“, als diese zwei
Gespenster. Sowohl das Denken als auch das Sein sind nach Stirner Abstraktionen;
Feuerbach sei, nach Stirners Feststellung, in der Abstraktion des Seins
steckengeblieben. Sind Anarchisten nicht ebenso in der Abstraktion der „Freien
Gesellschaft“, des „Eigentumsrechtes“, des Kollektivbewußtseins usw.
steckengeblieben? Schon der Glaube bzw. die Überzeugung von einer zukünftigen
freien, herrschaftslosen Zustand und das Streben
danach ist für Stirner nichts anderes, als den „fixen Ideen“ nachzugehen.
„Das
Sein ist aber in Mir so gut überwunden als das Denken Es ist mein
Sinn [Sein?], wie jenes mein Denken.“5
Zum existieren brauche ich beides, wie ich tausend andere Sachen brauche, vor
allem aber brauche ich Mich, diesen ganz Bestimmten, Mich diesen Einzigen.“5a
Was
Stirner zum Ausdruck bringen will, ist weder ein absolutes, heiliges, noch ein göttliches
Ich, sondern ein Ich, das sich stets verbraucht, ohne sein Sein an irgend etwas,
sei es eine Idee, sei es ein Idol festzunageln. Ein Ich, das seine Wünsche,
Instinkte, seinen Willen, also seine Einzigkeit, ohne ein Geschöpf anderer zu
sein, verbraucht. An dieser Stelle möchte ich Martin Heidegger (1889-1976) zu
Wort kommen lassen, ohne seine Stellung im Hinblick auf Stirner näher zu
beschreiben. Seine präzise Formulierung über das Seinsproblem erklärt
Stirners Grundhaltung exakt: „Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder
so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz.
(...) Das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit
seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein. Diese Möglichkeiten hat
das Dasein entweder selbst gewählt, oder es ist in sie hineingeraten oder je
schon darin aufgewachsen. Die Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder
Versäumens nur vom jeweiligen Dasein selbst entschieden.“6
Mit
anderen Worten: Das Sein des Daseins, also die Existenz wird immer vom
jeweiligen Dasein selbst entschieden, in der Wahl seiner eigensten Möglichkeiten.
Dabei kann es (das Dasein) sein Ich zum Ausdruck bringen oder Geschöpf anderer
werden. Kann es sich selbst verwirklichen, dann tritt die Eigentlichkeit hervor.
Wenn es aber seine Wahl vorgeben läßt, dann wird es ein Geschöpf anderer und
es steckt in der Uneigentlichkeit. Der Begriff Eigentlichkeit heißt bei Stirner
Einzigkeit. Dies allein dazu.
Kurzum:
Um seine Eigentlichkeit (Einzigkeit) zu verbrauchen, braucht Stirner keinerlei
absolute Ideen; einzig ausschlaggebend ist, daß alle Ideen ihm dabei dienen können.
So geht Stirner mit allem um. Wohl verstanden: um seine Eigentlichkeit zu
gewinnen, d. h. um sein schöpferisches Ich aus dem Nichts ans Tageslicht zu
bringen, es also zu verbrauchen, ohne dabei Geschöpf anderer zu sein und um es
wieder ins Nichts zu senden; also vergänglich sein ist die ganze Philosophie
Stirners. Mit anderen Worten: Stirner kommt aus dem Nichts und geht ins Nichts.
Sein Dasein in der Welt ist nicht durch Kategorien zu erfassen, alles, was da zu
sein scheint, übernimmt Stirner wollend. Ferner ist sein Wille gekennzeichnet
durch die Möglichkeit, sein Ich zu verbrauchen.
Nach
dieser Auffassung Stirner als einen bloßen Individualismusbegründer zu
beschreiben, ja sogar als solchen zu verteidigen, sein Ich, das zu sagen pflegt,
alles in allem zu sein, auf einen Punkt zu reduzieren, heißt mit Sicherheit,
Stirner nicht verstanden zu haben.
Ferner
leiden Anarchisten unter dem Bewußtsein des Kollektivseins- bzw. seinmüssens.
Daß ihre Gegner ihnen Nichtorganisierung jeder Art vorgeworfen haben, hat sie
dazu veranlaßt, das Kollektive als ihr erstes Prinzip zu erklären. Doch
leider, wie ihre Geschichte (jede andere auch) deutlich zeigt: sie sind
gescheitert an der Intrigantin der Kollektive; der Gesellschaft.
Stirner
bot eine Art Psychoanalyse, wodurch Menschen ihre Gespenster und Geister los
werden können, also eine Art „Selbstreinigung“ wäre daraus zu verstehen.
Dies wohl nicht im christlichen Sinne – versteht sich. Selbstreinigung heißt
im Kontext, die „fixe Idee“ den „Sparren“, die fremden Programmierungen
aus dem Kopfe hinauszuwerfen, und die Eigentlichkeit zu schöpfen und zu
verbrauchen. Statt dessen taten Anarchisten das Gegenteil: Durch eine bloße
Kritik an den bestehenden Zustand übernahmen sie zum größten Teil das Fremde
ohne eine Selbstreflexion und schrieben es auf ihre Fahnen, die sie anbete(te)n.7
Das Prinzip „Gleiche Freiheit Aller“, um nur eins zu nennen, steht mit
Stirners Philosophie in keiner Hinsicht in Beziehung. Und so ist es mit all den
anderen Prinzipien und Regeln, die hier zu nennen es sich nicht lohnt.
Es
ist an der Zeit, Stirner aus den jeweiligen Sekten herauszunehmen und ihm
endlich seinen eigentlichen Platz in der Philosophie anzuerkennen.
Fußnoten
(1) Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Reclam, Stuttgart 1981,
(2) Ebenda, S. 399
(3) Ebenda, S. 208, 209
(4) Ebenda, S. 379
(5) Ebenda, S. 382
(5a) Ebenda
(6) Martin Heidegger: Sein und Zeit. (Max Niemeyer Verlag) Tübingen 1993. S. 12
(7) Siehe hierzu: K.H.Z.
Solneman: Anarchismus. Einmal ganz anders. Mackay-Gesellschaft. Freiburg
1977
QUELLE
: Der Einzige. Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig,
November 1999 |
Stirner und
Landauer
Stirner und
Chajjam
Stirner und Antipädagogik
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