Man kann sich, bei dem schlechten Ruf Stirners, tatsächlich gut vorstellen, daß Nietzsche mit ihm nicht in einem Atemzug genannt sein wollte.

- Rüdiger Safranski -       

 

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Max Stirner – Ein Exzentriker in der abendländischen Philosophie

Eine wissenschaftliche Arbeit über Max Stirner? Wozu das? Über einen »rigorosen Monomanen« (Jürgen Habermas), über einen »verkommenen Studiker« (Carl Schmitt), der wie Bernd A. Laska wehklagend feststellt »nicht in das Pantheon der Kant und Hegel, Marx und Nietzsche« (Laska DD 120)* gehört, sondern eher als ein »Paraphilosoph« zu bezeichnen sei, weil Stirner immer zu einer Randfigur und einem »Paria« verurteilt wurde. 

»Überall in der Welt der Gebildeten wäre er [Nietzsche] für immer diskreditiert gewesen, wenn er auch nur irgendwelche Sympathie mit dem plumpen, rücksichtslosen, auf seinen nackten Egoismus und Anarchismus pochenden Stirner hätte merken lassen.« [1] Mit diesem Satz bringt Wolfert von Rahden nicht nur Nietzsches, sondern das allgemeine Verhältnis der Philosophen zu Stirner auf einen Nenner. Und Rüdiger Safranski bestätigt von Rahdens Feststellung: »Man kann sich, bei dem schlechten Ruf Stirners, tatsächlich gut vorstellen, dass Nietzsche mit ihm nicht in einem Atemzug genannt sein wollte.« [2]

Es bleibt nicht nur bei Nietzsche, sondern eine Reihe so genannter großer Philosophen genieren sich, mit dem Namen Max Stirner in Verbindung gebracht zu werden. Stirner hat in der Geschichte der Philosophie ohne Zweifel einen besonders schlechten Ruf. Meist wird er als Anarchist, Nihilist und Solipsist diffamiert und als solcher für gefährlich erklärt.  In den Vorlesungsverzeichnissen der Universitäten begegnet man dem Namen Max Stirner äußerst selten. Für philosophische und wissenschaftliche Lexika gilt er als Begründer eines extremen Individualismus oder Individualanarchismus. In Philosophiegeschichten wird er kaum genannt und wenn man ihn doch erwähnt - aus welchem Grund auch immer -, distanziert  man sich schnell mit der Bemerkung, er gehöre eben in die Schule der Junghegelianer, die für die Gegenwartsphilosophie unwichtig sei. Philosophieprofessoren der zahlreichen Universitäten Deutschlands zeigen sich verärgert, wenn ein Student es wagt, den Namen Stirner mit Heidegger oder Nietzsche in Verbindung zu bringen; es wird ihm geraten, die Beschäftigung mit dieser Randfigur zu unterlassen. Stirner sei ein Kuriosum, mit dessen Werk das Philosophieren nicht möglich sei. Oder er wird ohne jeglichen Grund schlicht abgelehnt.

Stirners gesamter philosophischer Impetus führt seit der Entstehung seines Buches »Der Einzige und sein Eigentum« [3] (EE) zu Missdeutungen, Vorurteilen, unüberlegten und schnellen Urteilen, die in der Geschichte der Philosophie keine Seltenheit sind. Seine philosophischen Kernaussagen wie »Ich hab’ mein’ Sach’ auf Nichts gestellt«, »Ich bin einzig« oder »Mir geht’s nichts über Mich« bestärken diese Missdeutungen und sorgen für seine Stellung als »Paria« in der Philosophie. Es ist also nicht verwunderlich, dass Stirner zu einem Apostel des vulgären Egoismus oder des individualistischen Anarchismus fehlgedeutet wurde; zu einem Kleinbürger, dessen Ideologie Karl Marx  »mit Kopf und Fuß widerlegte« oder zu einem Vorläufer Nietzsches, der das geistige Dynamit von Stirner übernommen, aber ihn namentlich nie erwähnt hat.

»Was will der Fall Stirner?« fragt Karen Swassjan provokativ, und er antwortet: »Im Jahre 1844, dreizehn Jahre nach Hegels Tod, schickte es sich durchaus, einen Schlussstrich unter die abendländische Philosophie zu ziehen. Man mag den Schlussstrichzieher Stirner traktieren, wie einem beliebt, man ist dennoch problemblind, sofern einem dabei in seiner Lynchgesinnung entgeht, dass die kurzerhand diagnostizierte ‚Psychopathie’ oder ‚Monomanie’ (oder wie sie auch immer heißt) nicht ohne weiteres dem Privatmann Stirner anzulasten sei, sondern – wenn schon! – dem seinerzeitigen Stand der Philosophie. [...] Stirner (von seinem arroganten Nachkommen so genannte) ‚schwere Psychopathie’ lässt sich notabene nicht psychologisch, noch weiniger psychiatrisch, sondern restlos philosophisch präsentieren.« [4]

Das Projekt Max Stirner wird nicht auf die Vorurteile und deren Gründe und Hintergründe eingehen, dies entspricht nicht dem Ziel des Projekts. Im Bezug auf diese Vorurteile und die Verkennung der Stirnerschen Philosophie bemerkte einmal der Stirnerkenner Gerhard Lehmann (1900-1987), dass die bisherige Stirner-Literatur philosophisch ziemlich unbrauchbar und überflüssig sei, da sie Stirners Philosophie nicht erfasst hat. 

Das Projekt Max Stirner wird sich auf die Philosophie Max Stirners konzentrieren, ohne sich auf ein bestimmtes Themengebiet einschränken zu müssen. Neben Stirners Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum werden auch seine Kleinere Schriften angemessen studiert; die Vielfältigkeit seiner Themen sind geradezu eine Verlockung zu einer genauen Untersuchung seiner Philosophie. Dabei wird das Projekt Max Stirner andere Philosophen und Philosophien heranziehen, damit der Disput nicht in die Einseitigkeit abgleitet und damit das behandelte Thema eine fruchtbare Diskussion findet.

Anmerkungen zum Stirners Sprachstil

Max Stirners Denk- und Schreibstil zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht in einem System passt. Stirner weigert sich überhaupt, »nach dem Schnürchen zu gehen« (EE 35) und bemüht sich kaum um schulphilosophische Probleme. Stirner distanziert sich eindeutig von diesem Vorgehen. Er denkt und schreibt nicht im standard-philosophischen Denken. Er schreibt eher ungeordnet, als streng systematisch. »Dies jedoch nicht aus Zufall oder infolge eines intellektuellen ‚Betriebsunfalls’.« [5] Einem radikalen Sprachkritiker, »der sich gegen den totalitären, alles Einzelne ‚aufhebenden’ Universalismus vehement zur Wehr setzt und deshalb auch das System für verderblich hält, wird zuletzt das Systematische schlechthin suspekt.« [6] Anstatt disziplinierter Systematik betreibt Stirner deshalb eine philosophische Ausschweifung. Nicht unbegründet sagte Rudolf Hirsch, Stirners Hauptwerk sei ein »System ohne Systemlosigkeit«.[7] Diese Ausschweifungen erinnern die Leser nicht selten an manche Prosastücke oder surrealistische und situationistische Texte, bei denen die Spur einer Vernunft festzustellen, kaum möglich ist. Es ist kein Zufall, dass manche Dadaisten und Surrealisten unter Stirners Einfluss zu künstlerischen Ausschweifungen gelangen konnten. Stirners Stil könnte als ein gescheitertes Prosastück mit philosophischem Inhalt definiert werden. Nicht unbegründet wird Stirner als jemand bezeichnet, der »einen wirklichen Hammer in der Hand hält.« [8] Man könnte sagen: Ein schlecht dichtender, aber sehr gut philosophisch ausschweifender Nietzsche. Philosophische Fragen werden von Stirner weder systematisch entwickelt noch systematisch expliziert, weshalb viele Stirner-Kritiker ihm, diesem missliebigen Philosophen, intellektuelle Unsinnigkeit unterschieben, um ihn mit angeblich wissenschaftlicher Methode, die aber nichts anderes impliziert als sich in einer grandiosen Argumentationsnot zu befinden, zu widerlegen. Diese Art von Kritik haben Marx und Engels und später auch der Marxist Hans G. Helms eindeutig geliefert.

Während Stirner einerseits die (deutsche) Sprache von ihrem christlichen Standpunkt zu befreien versucht, betreibt er andererseits eine vernichtende Sprachkritik. Er intendiert, manche Wörter, beispielsweise Eigenheit, Eigennutz, Eigensinn, Eigenwille, Eigenliebe »wieder zu Ehren« zu  bringen. (EE 186)  »Die Eigenheit schließt jedes Eigene in sich und bringt wieder zu Ehren, was die christliche Sprache verunehrte.« (EE 188). Dabei macht aber Stirner dem Leser das Problem nicht einfacher. Einige Seiten später entleert er nämlich den Inhalt des Wortes völlig: »Für Mich hat die armselige Sprache kein Wort, und ‚das Wort’, der Logos, ist Mir ein ‚bloßes Wort’« (EE 201). Oft wird der Leser gezwungen, hinter dem Gesagten Wort das Gemeinte zu suchen. Stirner macht einen Unterschied zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten. Schließlich wird das Projekt Max Stirner Stirners unkonventionellen Denk- und Schreibstil kritisch hinterfragen, ohne dabei in eine Vernichtungskritik oder eine Apologie zu verfallen. 

H. Ibrahim Türkdogan

 Samarkand, im Sommer 2004

Fußnoten

*Laska, Bernd A.:  Ein dauerhafter Dissident (DD), S. 120. LSR-Verlag Nürnberg 1996.

[1]  Rahden, Wolfert von: Eduard von Hartmann und Nietzsche. Zur Strategie der verzögerten Konterkritik Hartmanns an Nietzsche, S. 485. In: Nietzsche-Forschung. Band 13., Berlin-New York 1984. Zitiert in: Rüdiger Safranski: Nietzsche. Biographie seines Denkens, S. 124, Hanser Verlag 2000.

[2] Safranski, Rüdiger: Nietzsche. Biographie seines Denkens, S. 124, Hanser Verlag 2000.

[3] Das Buch erschien im Oktober 1844 (datiert auf 1845) im Leipziger Verlag Otto Wigand.

[4] Swassjan, Karen: Hommage à Max Stirner. In: Max Stirner. Das unwahre Prinzip unserer Erziehung. Oder Der Humanismus und Realismus. S. 39, Rudolf Geering Verlag 1997.

[5] Sosnitza, Helmut: Erkenntnis und Wahrheit bei Max Stirner. Wissenschaftliche Arbeit im Rahmen der Magisterprüfung. S. 6, Aachen 1989. 

[6] Sosnitza, a.a.O., S. 6.

[7] Hirsch, Rudolf: Karl Marx und Max Stirner. S. 191, Dissertation München 1956.

[8] Swassjan, Karen: Nietzsche – Versuch einer Gottwerdung. S. 176, Verlag Am Goetheanum 1994.


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