Jörg Ulrich

Der Einzige und sein Heiligtum. Ibrahim Türkdogans Versuche, mit Stirner das wirre Haar der Philosophie zu bürsten  

(In: Der Einzige. Nr. 2, 2003, S. 23-26)

 

In der Philosophie geht es immer um grundsätzliche Fragen und damit zugleich ebenso grundsätzlich ums Ganze. Ob man nun nach dem Sein fragt oder nach dem Nichts, immer läuft das philosophische Fragen auf eine Wahrheit hinaus oder auf die Suche nach einer solchen und zeigt sich damit als das, was es immer schon war, nämlich Metaphysik. Selbst die heute fast schon zum „guten Ton“ gehörende Feststellung, es gebe keine Wahrheit, kommt nicht umhin, ihrerseits mit dem Anspruch auf Wahrheit aufzutreten, womit sie dem Bannkreis der Metaphysik nicht entkommt, sondern sich gerade dort in Metaphysisches verstrickt, wo der so denkende Geist meint, er habe die Metaphysik bereits weit hinter sich gelassen.

Grund genug, um auch in Ibrahim Türkdogans Versuchen über Max Stirner mit dem Titel „Der Einzige und das Nichts“ Metaphysik zu vermuten. Immerhin beschäftigen sich die Essays mit einigen philosophischen Schwergewichten, die jeweils in Beziehung gesetzt werden zu Stirner: Sartre, Scheler und Nietzsche – auch von Heidegger ist die Rede, von Kierkegaard und Jaspers (über den philosophischen Dichter oder dichtenden Philosophen Omar Chajjam kann hier nichts gesagt werden, da dem Rezensenten die nötigen Kenntnisse fehlen).

Die Leserinnen und Leser der Türkdoganschen Ausführungen stehen zunächst einmal vor der Aufgabe, sich an die bisweilen gleichsam mystisch vibrierende, bisweilen arkan raunende Sprache des Autors zu gewöhnen, mit der er in allen vorliegenden Texten zu suggerieren versucht, mit Stirner seien die Probleme der diskutierten Philosophen bereits gelöst und nicht erst aufgerissen, bloßgestellt und in ihre Problem-stellung gebracht, nämlich nicht aus dem Teufels-, sondern aus dem Gotteskreis der Metaphysik auszubrechen.

Im ersten Essay wird Sartres Existenzialismus referiert und festgestellt, dass Sartre letztendlich einem „Menschheitsideal“ verpflichtet bleibt und im moralinsauren Sumpf des Humanismus versackt. Darüber, so heißt es am Ende des Textes, lacht Stirner. So einfach scheint das also zu gehen – und so einfach wird man in dieser Art und Weise auf spärlichen zwölf Seiten mit Sartre fertig. Wenn das Gelächter Stirners verhallt ist, stellt man sich die Frage, worin denn der Ertrag dieser Abhandlung besteht, welchen Erkenntnisgewinn die Leserinnen und Leser aus dem Text ziehen können. Sartre schreckt vor dem Abrund der allesumgreifenden Nichtigkeit zurück wie ein scheuendes Pferd und flüchtet in den warmen Stall der Moral, während Stirner eben diese Nichtigkeit zur Grundlage seines Denkens macht. Damit kann man schon einverstanden sein, wäre da nicht der Weg, auf dem diese Einsicht gewonnen wird. Stirner und Sartre, so heißt es im Text, gingen davon aus,  jeder Mensch sei mit einer „angeborenen“ Freiheit und Authentizität ausgestattet. Erst die Zwangsverhältnisse der Gesellschaft beraubten ihn um diese ursprüngliche Freiheit und Echtheit. Die Lösung des Problems ist für Türkdogan denkbar einfach: „Nach Stirner erhalte ich ein reines, eigenes Ich, wenn ich das Fremde, die Gesellschaft aus mir hinauswerfe.“ An dieser Stelle wird es zweifelhaft, ob hier von Stirner die Rede ist oder nicht vielmehr von Rousseau: „Der Mensch ist frei geboren und liegt doch überall in Ketten.“ Anders gewendet, und diesen latenten Rousseauismus ergänzend, ist die These von der „natürlichen“ Freiheit und Authentizität ja ganz offensichtlich die liberalste aller liberalen Phrasen, die Stirner gerade zum Gegenstand seiner Kritik macht. Hier hätte die Trennschärfe der Stirnerschen Sprache gegenüber der herkömmlichen Begrifflichkeit und Freiheitsduselei des Liberalismus herausgearbeitet werden müssen, statt beide ineinander verschwimmen zu lassen. „Nein, nichts soll verlorengehen“, schreibt Stirner, „auch die Freiheit nicht; aber sie soll unser eigen werden, und das kann sie in der Form der Freiheit nicht.“ Dass die von Stirner gegen die Freiheit polemisch gewendete Rede von der Eigenheit etwas mit „Natur“ zu tun haben soll, bleibt völlig schleierhaft. Was uns vergesellschafteten Menschen „Natur“ heißt, ist ebenfalls bereits durch und durch gesellschaftlich präformiert, und man kann die Gesellschaft hier ebenso wenig einfach hinauswerfen wie aus sich selbst. Stirner reflektiert doch gerade diese Gefangenschaft, die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse und die „fixen Ideen“ erzeugte Heteronomie. Wäre der Weg aus dem metaphysischen Sumpf so glatt und eben, wozu hätte Stirner dann ein so dickes Buch schreiben sollen wie „Der Einzige und sein Eigentum“? „Das Tun und Treiben um uns herum, die Unechtheit, ist zu groß, zu mächtig“, schreibt Türkdogan. Richtig!, möchte man ihm zurufen. Aber der „Unechtheit“ eine auf „Natürlichkeit“ und „Ursprünglichkeit“ basierende Echtheit entgegenzusetzen, das ist zweifellos ein neuer „Sparren“, mit dem „zu einer neuen Religion der Grund gelegt“ wird, um es mit Stirner zu sagen. Wir selber sind der Ursprung unserer Suche nach dem Ursprung. Der Gotteskreis der Metaphysik schließt sich erneut. Und in der Mitte dieses Kreises, da steht Ibrahim Türkdogan – neben Stirner, neben mir und neben vielen anderen...

Der Essay über Stirner und Scheler beginnt, nach den oben getroffenen Feststellungen ganz logisch und konsequent, mit einer Charakterisierung Stirners als eines antirationalistischen Mystikers und Metaphysikers. In diesem Zusammenhang schließt der Autor affirmativ an Rüdiger Safranski an, der Stirner als den „radikalsten Nominalisten vor Nietzsche“ bezeichnet hat. Die Begründung für dieses Stirner solchermaßen aufgeklebte Etikett gleitet ab in ein waberndes, schwiemelndes, klandestines Getuschel über Gott und das Jenseits in uns, was Stirner mit Recht als die fixe Idee des bloß befreiten Menschen kritisiert. Von hier aus lässt sich die Kritik an der von Scheler geforderten „Gottwerdung des Menschen“ zwar nachvollziehen, und die Haltung Stirners, sein Abtauchen ins Schweigen über das Unaussprechliche im Angesicht der von Herrschaft gleichsam durchseuchten Sprache, zeigt den bedeutenden Unterschied zum Denken Schelers – was dies alles aber mit Nominalismus zu tun haben soll, das bleibt im Dunkeln. Außer einem ebenfalls recht wabbeligen Zitat von Safranski kommt zu diesem Thema nichts weiter. Wäre Stirner tatsächlich  Nominalist, setzte er also die Nomina nur in einfacher Negation gegen die Realia (die als wirklich behaupteten Allgemeinbegriffe), so wäre der ideologiekritische Nutzwert seines Denkens gleich Null, sein Verständnis des Ich („Mir geht nichts über mich“) wirklich nichts als ein solipsistisches Konstrukt, das man zu den historischen Akten legen könnte. Wenn die mittelalterlichen Nominalisten Gott in seiner Unbegreiflichkeit gegen den Zugriff der Vernunft verteidigen wollten, dann war dies eine Verteidigung des Absoluten gegen das Vergängliche. Wird Stirners Verteidigung des Ich gegen die Herrschaft der Allgemeinbegriffe dazu in Analogie gesetzt, wie Safranski und mit ihm Türkdogan dies tun, dann wäre dieses Ich eine göttliche creatio ex nihilo, also ein Absolutes, allmächtig, allwissend, unendlich usw. Mit anderen Worten: Stirners Ich wäre der, den er überhaupt nicht mag, nämlich Gott. Die spezifische Differenz der „auf Nichts gestellten“ Sache Stirners besteht aber gerade darin, die eigene Endlichkeit zum Ausgangspunkt zu nehmen und die Tatsache, dass kein Mensch sich selber erschafft, sondern sich vorfindet unter Verhältnissen, die ihn unter sich subsumieren. Dagegen rebelliert das Stirnersche Ich. Und dieses Ich will alles Mögliche – nur nicht schon wieder einen neuen Gott bzw. neue Götter.

Es folgen „Gedanken zur Psychoanalyse Stirners“, der bereits erwähnte Essay über Stirner und Omar Chajjam sowie ein fiktives Gespräch mit Nietzsche und der Essay über Stirner und Nietzsche. Zum Thema Stirner und Nietzsche werde ich mich in Zukunft an anderer Stelle noch ausführlich äußern und dabei den im hier zur Verhandlung stehenden Band enthaltenen Essay mit einbeziehen. Abschließend nur noch einige Bemerkungen zu dem fiktiven Gespräch mit Nietzsche. Es fällt schwer, diesen Text in eine Beziehung zum Titel des Bandes zu setzen. Und man muss nicht vom Virus der Deutschtümelei befallen sein, um allergische Reaktionen auf diesen Text zu zeigen. Eine Kostprobe: „Der Deutsche gleicht einem verfaulenden Zahn, der jeder Zeit in den Abgrund fallen wird, wie eine verfaulende Seele, die das Lebendige und Schöne eliminiert, bevor sie sich in Staub auflöst. (...) Seine Seele (die „des“ Deutschen – J.U.) ist eine Institution, in der sich Tod und Verbrechen verbergen.“ Wer ist das, „der“ Deutsche? Was immer der Autor auch meinen mag, es handelt sich um einen Oberbegriff wie „der“ Mensch. „Den“ Deutschen gibt es genauso wenig wie „den“ Franzosen, „den“ Amerikaner, „den“ Türken oder „den“ Russen usw. Das klingt alles ähnlich wie ich es aus meinen Erinnerungen kenne an jene älteren, kriegsseligen Herren der Nazi-Generation, wenn diese von „dem“ Iwan sprachen. Die Art und Weise, in der Heidegger im Verlauf dieses Textes verwurstet wird, wäre eine eigene Abhandlung wert. Zumindest scheint der Autor soweit von Heidegger infiziert zu sein, dass er selber heideggert, was das Zeug hält. „In der Gesamtdeutschen Zusammengenommenheit haben die Deutschen in der Seinsbenommenheit ihre Daseinsvergessenheit als Nationalisten ins Gedächtnis gerufen.“ Ganz davon abgesehen, dass diesem Satz nur sehr schwer eine nachvollziehbare Bedeutung abgewonnen werden kann, sei darauf hingewiesen, dass Heidegger selber nicht gut auf jene zu sprechen war, die ihn unbeholfen nachzuahmen sich bemühten. Es gibt eine Anekdote, in der es heißt, dass Heidegger selbst einmal im Seminar einen heideggernd referierenden Studenten mit dem erbosten Ausruf unterbrochen haben soll: „Bei mir wird nicht geheideggert!“

Insgesamt scheint mir der Band Ausdruck eines Versuches zu sein, das vom ontologischen Wind zerzauste Haar der Philosophie gegen den Strich zu bürsten und Stirner dabei als Bürste zu benutzen.

Möglicherweise aber geht es dabei Stirner wie den Deutschen: In seiner Verbürstung zur bürstigen Bürste fällt er in die Nichtsbenommenheit der seinsfixierten Eliminierung der kritischen Potenz seines Denkens. Man kann die Sprache quälen, foltern, zertreten und vielleicht auch vernichten und das Schweigen zur ultima ratio des Denkens erklären. Sie jedoch in der Form eines mystischen Nebel in eine Nacht abpfeifen zu lassen, in der nicht nur alle Katzen grau sind, sondern auch alle Philosophen blind, kann einem Begreifen dessen, was ist, nicht dienlich sein. Der Einzige als Mystiker steht am Ende wieder... nicht vor seinem Eigentum, sondern vor einem neuen Heiligtum... Der Gotteskreis schließt sich erneut!

 Zurück

éñá

Übersichtsseite